Freitag, 3. Juni 2016
Asperger-Syndrom und Charakterbildung
Es ist wunderbar, mit dem Asperger-Syndrom, einem leichten Autismus, zu leben: du bist keiner dieser Langweiler, die sich für nichts interessieren, sondern entwickelst leicht und mit großer Begeisterung viele nonbanale Interessen. Du lachst über Spiegel-Artikel, die in erbärmlicher literarischer Qualität Einzelschicksale exploitieren, um über Themen zu berichten, - stattdessen brauchst du nur einen Blick auf Listen und Tabellen zu werfen, und weißt sofort, was Sache ist. Eine Ziffer ist für dich ein Mensch, 55 Millionen Tote sind keine kalte und unvorstellbare Zahl, nein, du blickst auf Zahlen und Diagramme, und weißt, was der Krieg angerichtet hat; du siehst hinter Tabellen und Graphen Schicksale. Du hast Mitleid nicht mit einer imaginären Mandy oder Chantal, sondern mit den realen Millionen Langzeitarbeitslosen, den Opfern des Bildungssystems, der allgemeinen Dekadenz und des geistig-moralischen Zustandes der Republik. Du genießt Wahlergebnisse und Fischer-Weltalmanach-Daten, wie andere bei Fussball-Weltmeisterschaften mitfiebern.
Du bist angenehm schüchtern, was oft als Ignoranz und Unfreundlichkeit missverstanden wird. Du hast mehr affektive Empathie und bist zu mehr Hilfsbereitschaft veranlagt als andere, zugleich hast du weniger kognitive Empathie, und nicht den Hang, Menschen zu manipulieren. Du kannst dich sehr gut in andere Menschen situativ hineinversetzen, kannst aber Mimik und Körpersprache nicht intuitiv verstehen. Dennoch überwiegen die Vorteile, besonders bei erhöhter Intelligenz. Du kannst Alleinsein gut ertragen, bist ein guter und verständnisvoller Zuhörer, den sowohl Frauen als auch weibischerweise Männer sich zum Zuhörerfreund auserkiesen. Du hast überhaupt keinen intuitiven Zugang zum anderen Geschlecht, und auch nicht zum eigenen, falls du schwul bist. Die Gefahr, eine schwere Jugendsünde zu begehen, die deine Gene weiterträgt, ist äußerst gering.
Das Leben mit leichtem Autismus ist gut, wenn du in Ruhe gelassen wirst, doch wenn du einer permanenten Kommunikationshölle ausgesetzt bist, aufgrund deiner geringen sozialen Kompetenzen zum Außenseiter wirst, den man dennoch nicht in Ruhe läßt, sondern zum Sündenbock macht, und der einen Minderwertigkeits- und Schuldkomplex entwickelt, aufgrund schwerer Depressionen suizidgefährdet wird, - dann hast du die Arschkarte mehrmals hintereinander gezogen. Da du zu Zwangsstörungen neigst, gehst du nach einer bestimmten Misshandlungsdauer und -intensität die Selbstwert-Abwärtsspirale auch ohne Fremdeinwirkung immer weiter runter, und oft kommt jede Hilfe zu spät, und du verabschiedest dich mit einem rücksichtsvoll vollstreckten und umweltfreundlichen Suizid.
Als Autist kannst du durch deine Direktheit oft andere verletzten, doch du wirst selbst unvergleichlich öfter verletzt: nicht nur durch Unverständnis, das wie ein Unfall passiert, und dem anderen daher nicht als Schuld anzurechnen ist, sondern auch durch absichtsvolle Gemeinheiten, respektlose Unterstellungen und böswillige Zuschreibungen. Es ist ein Vorteil, Asperger-Autist zu sein, aber kein Privileg – warum es kein Privileg ist, ist aus der das ganze Leben umgreifenden sozialen Benachteiligung zu erschließen; ein Vorteil ist es, weil viele frühe Verführungen, Taten zu begehen, die du später bereust, und Menschen so zu verletzen, dass du es nie wiedergutmachen kannst, aus Mangel an Gelegenheit ausbleiben. In Verbindung mit einer narzisstischen Störung ist das Asperger-Syndrom jedoch eine Gefahr, weil du die zahllosen Ungerechtigkeiten, die du erlitten haben wirst, nicht vergeben kannst, und auf Rache sinnst. Wenn du als autistisches Kind Narzissten ausgesetzt warst, kann das Erlittene keinen Vergleich scheuen, aber du hast einen derart scharfen Ekel gegenüber dem Egoismus entwickelt, dass du zu deinem angeboren übersteigertem Gerechtigkeitssinn eher Barmherzigkeit als Selbstgerechtigkeit hinzufügst, was zu einer Anlage zu einem souveränen moralischen Charakter werden kann, einfacher ausgedrückt, dir dabei helfen kann, ein wirklich guter Mensch zu werden.
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