Dienstag, 3. April 2018

Irrliebe





Liebe, so heißt es, deinen Nächsten! In vino caritas: trinken wir auf die barmherzige Liebe! Liebe, so heißt es, deinen Feind! Homo homini lupus: den Fremden kennt der Christ nicht, aber er kennt Gott, und zwar persönlich. Auf diesem Vertrauen, dass sein Gott der Gott aller Menschen ist - philosophisch ausgedrückt, dass die gesamte bekannte und unbekannte Welt ein einziges Ganzes ist - sei die Feindesliebe gegründet.

Der dritte Stand erhob sich aus dem Staub der Geschichte, um die Welt aus den Angeln zu heben,  um die Werte umzuwerten, um Gott für tot zu erklären. Alle Sittlichkeit ward ihm nichtig, es zählte allein die Gesinnung. Reformation und Romantik haben die Welt tiefgreifender verändert, als die Französische Revolution Frankreich. Seit einigen Jahrhunderten gibt es nur noch eine Liebe, die romantische, - ob mit oder ohne Eros, die Liebe hat wahr zu sein, muss tief aus dem Herzen kommen.

Seien wir ehrlich. Die meisten von uns, hätten sie ihre Eltern oder Geschwister in der freien Wildbahn getroffen, hätten einen großen Bogen um diese Menschen gemacht. Jeder wurde in ein Umfeld hinein geboren, das er sich nicht aussuchen konnte, und im Nachhinein auch nicht ausgesucht hätte. Die alte Weltordnung kennt die Pflicht, die Älteren, insbesondere die Eltern, zu ehren. Die Pflicht kann gern oder freudlos erfüllt werden, aber solange sie erfüllt wird, handelt man richtig. Die neue Weltordnung fordert nun, dass die Liebe zu den Eltern und Geschwistern nicht nur pflichtgemäß gelebt, sondern auch tief im Herzen empfunden werden möge. Wie pervers das ist, versteht sich nicht für jeden von selbst. Also ein Gedankenexperiment.

Man stelle sich vor, man würde auf offener Straße gefangen und entführt werden, dann in ein Kellerloch mit Kinderbett gesteckt, und dort für Jahre festgehalten. Wenn man Hunger oder Durst hat, muss man anfangen, laut zu heulen, und wenn man etwas tun will, muss man den Entführer um Erlaubnis fragen. Ein seltenes und selten abscheuliches Verbrechen, so selten, dass ein Opfer allein dadurch, dass ihm solches widerfuhr, berühmt werden kann. Und doch ist das jedem von uns passiert: jeder wurde in die wehr- und hilflose Lage eines Kindes hineingeboren, ohne dass man ihn um seine Zustimmung gefragt hätte. Jeder musste seine zartesten Jahre an der Seite von Erwachsenen verbringen, die er sich nicht aussuchen konnte, und die eine fast uneingeschränkte Macht über ihn inne hatten.

Ein Entführungsopfer kann, um nicht aufgrund seiner hilflosen Situation den Verstand zu verlieren, am Stockholm-Syndrom erkranken. Das funktioniert auch bei jedem Kind, und hieraus resultiert die unhinterfragbare Liebe zu den eigenen Eltern, - unhinterfragbar, weil die Entführung im Alter von Null stattfindet, und das Machtgefälle zwischen Entführer und Opfer gigantisch ist.

Der Mensch wird als unfrei geboren, und das neuzeitlich umgedeutete Liebesgebot - Liebe müsse nicht nur gelebt, sondern auch empfunden werden - legt ihn in Ketten. Es geht auch anders: ja, diese Frau da ist meine Mutter, aber ich, Fritzchen, 5 Jahre alt, bin in mein Kindermädchen verknallt. Die Mutter ehre ich, das Kindermädchen liebe ich. Wer ist der wichtigste Mensch in meinem - Annika, 8 Jahre alt, - niedlichen süßen Leben? Nein, nicht mein Vater, sondern natürlich die schöne Sophie aus der vierten Klasse. Wir müssen lernen, Schutzbefohlene nicht als Besitz zu betrachten. Wir müssen aufhören, Liebe erzwingen zu wollen. Wir müssen erkennen, dass unsere Eltern nicht das Beste für uns wollten, sondern dadurch, dass sie uns in die Welt setzten, das Beste für sich erhofften.