Italien erlebte, im Gegensatz zu Deutschland, keine zweite Teilung im 20. Jahrhundert, aber es sehnt sich danach, zu trennen, was nicht zusammengehört. Der Gegensatz zwischen Nord- und Süditalien könnte aber auch eine Nebelkerze sein, um nicht eingestehen zu müssen, dass Italien, wie es heute existiert, überhaupt, auch zweigeteilt, keinen Sinn ergibt.
Italien ist in der Falle der Zweitklassigkeit gefangen: es spielt seit dem Neubeginn seiner staatlichen Existenz in der Moderne mehrere zweite Geigen, und zwar gegenüber Frankreich, dem spätneuzeitlich-modernen Primus der romanischen Welt, seinen neuzeitlichen habsburgischen Beherrschern Spanien und Österreich, seiner eigenen antiken Vorgeschichte als Römisches Reich und nicht zuletzt Deutschland, das ihm den Reichstitel im Mittelalter weggenommen hat.
Italien ist nicht aufgrund seiner Gegenwart ein Land der Sehnsucht. Auf
meiner Italienreise im nächsten Jahr werde ich die meiste Zeit in der
antiken Welthauptstadt Rom verbringen und in die Renaissance-Metropolen
Florenz und Genua reinschauen. Was ist mit Venedig? Venedig ist Venedig,
es ist nicht Italien. Seine Nachfolger heißen Antwerpen, Amsterdam und
London, und aktuell New York.
Die Sinnkrise Italiens begann gleich mit seiner Staatsgründung. Luigi Cadorna war kein Aetius, kein Majorian, kein Theodosius, und wir sind immer noch im allerletzten Jahrhundert des Reichs in der Spätantike. Die unzähligen Isonzo-Schlachten brachten weder Ruhm noch Ehre, aber Leid und Schwere. Der Sieger Italien stürzte 11 Jahre früher als der Verlierer Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg in den Faschismus. Und nun aber! Oder? Ich sage nur ein Wort, ein einziges Wort: Adua.
War es das wert, deshalb 40 Jahre später als erste Nation Giftgas aus Flugzeugen zu versprühen? Wie groß muss der Frust gewesen sein, dass man die Lazarette des Roten Kreuzes absichtlich bombardierte? Äthiopien erobert, und nun? Schwere, peinliche Niederlage gegen Griechenland in Albanien. Hitler musste aushelfen. Im Windschatten des Dritten Reichs wurde etwas Land am Mittelmeer zusammengesammelt, aber die Kapitulation gegen die Kriegs-Amateure aus den USA kam, als Deutschland antiheldisch den totalen Krieg kämpfte. Als imperialistischer Staat war das neugegründete Italien eine Katastrophe.
Doch im Frieden wurde Italien groß. Norditalien hat mehr Gemeinsamkeiten mit Süddeutschland und der Schweiz als mit wirtschaftlich schwachen Regionen Westeuropas. Trotz scharfer regionaler Unterschiede ist Italien ein Gigant der Weltwirtschaft mit einflussreicher Kultur. Die Bevölkerung ist jedoch im Durchschnitt sehr alt, die Fertilitätsrate so niedrig, dass das Aussterben unumkehrbar ist. Italien hat keine eigene, aber eine gemeinsame europäische Zukunft. Und die ist düster.
Dann aber zurück zur Vergangenheit: Was hatte Italien in den 500 Jahren nach der Renaissance überhaupt für einen Sinn? Das viel weiter zurückgefallene Spanien hat einen langen flauschigen Eichhörnchenschwanz an lateinamerikanischen Tochterstaaten. Frankreich ist eine Großmacht. Deutschland, trotz allem, auch. Von England schweigen wir besser. Die anderen europäischen Länder sind aber viel kleiner, da wäre ein Vergleich peinlich, ein verlorener erst recht. Also: What went wrong? Vielleicht ist es die Zyste. Monaco ist ein Schandfleck der Ultradekadenz, aber es liegt am südöstlichen Rande Frankreichs. Und Vatikan ist eine giftige Zyste mitten im Herzen Italiens. Bevor sich Italien abschafft, könnte es den Vatikan abschaffen, zu verlieren hat man eh nicht mehr viel.