Dienstag, 10. Juli 2018
Vertrauen
Ich bin sehr gutgläubig: ich gehe jeden Tag durch die Straßen, ohne mich an Objekten festzuhalten, die fest am Boden verankert sind, denn ich vertraue darauf, dass es die Schwerkraft auch morgen noch gibt, und ich etwa von einem Windstoß nicht einfach ins Weltall geblasen werde. Naturgesetzen und Naturkonstanten kann man bedenkenlos vertrauen, darauf vertraut zumindest die Wissenschaft. In der Philosophie heißt der Glaube daran, dass das Universum logisch strukturiert ist, und nach bestimmten Gesetzen funktioniert, nicht Vertrauen, sondern Rationalismus.
Menschen kann man nicht so bedenkenlos vertrauen. Menschen können lügen. Sie können das, weil sie einen freien Willen haben. Es ist Freiheit erforderlich, um betrügen zu können, denn was streng determiniert logischen Gesetzmäßigkeiten folgt, ist berechenbar. Natürlich sind auch Menschen berechenbar, und Naturphänomene können täuschen. Jedoch werden Dummköpfe, die zwischen Naturphänomenen und Naturgesetzen nicht unterscheiden können, nicht von der Natur belogen, sondern Opfer ihrer eigenen Naivität. Was Menschen betrifft, so kann selbst der berechenbarste Dummkopf aus freiem Entschluss spontan eine völlig unvorhersehbare Entscheidung treffen.
Nur ihrer Selbst bewusste, freie Wesen können lügen und betrügen, erklärten Absichten zuwider handeln, und somit überhaupt die Vertrauensfrage stellen. Wem kann ich vertrauen? Darauf gibt es keine wissenschaftlich korrekte Antwort, denn die Wissenschaft kann nur das Sein erforschen, jedoch nicht die Freiheit, das Reich des Seinkönnens, in welches jedes moralische, sittliche und rechtliche Sollen fällt. Wem soll ich vertrauen? Die moralisch korrekte Antwort lautet: jedem, der ein Mensch ist, denn durch seine Freiheit hat er auch die Pflicht, ehrlich zu sein, - doch diese Antwort ist pragmatisch gesehen sehr unbefriedigend.
Schelling, der Mystiker der klassischen deutschen Philosophie, sieht die Freiheit als das Höchste im Universum, - mit der Konsequenz, dass Gott, weil er das höchste Wesen ist, frei wie der Mensch sein muss, und nicht einem universellen Gesetz unterworfen, wie die Natur. Kann ich Gott vertrauen? Das Sein Gottes ist die Freiheit. Was ist aber das Wesen Gottes? Wenn ich nicht annehme, dass sein Wesen Vernunft ist, dann muss ich die Gültigkeit der Naturgesetze dem Zufall zuschreiben, und die unumstößlichen (weil durch die reine Vernunft konstituierten und somit nicht durch Erfahrung relativierbaren) moralischen Gesetze der Vernunft verlieren ebenfalls ihren Sinn. Ist Gottes Wesen Vernunft, so ist er zwar absolut frei, wird sich aber (oder vielmehr: gerade deshalb, da aus Freiheit) immer an die Gesetze der Vernunft halten, so dass sie für mich als Geschöpf dieselbe objektive Gültigkeit erhalten, wie die Naturgesetze.