Montag, 2. Dezember 2019

Ein guter Mensch





In einer ideationalen oder idealistischen, sprich gesunden Gesellschaft ist die Bezeichnung „guter Mensch“ der ultimative Ritterschlag, denn alle positiven Charaktereigenschaften und Verdienste, alle bewunderungerregenden Anekdoten und ehrenhaften Titel laufen auf ein klares positives moralisches Urteil über eine Person hinaus.

In einer dekadenten Gesellschaft wird mit dem Schlechten kokettiert und das Gute wird einem Pauschalzweifel unterzogen; der gute Mensch ist automatisch einem Vorwurf der Scheinheiligkeit ausgesetzt und der moralisch einwandfreie Held wird durch die Figur des nicht guten, dafür aber authentischen Antihelden ersetzt. Der Antiheld hat letztlich ein tief verborgenes „gutes Herz“: zwar strebt die liberal-dekadente Gesellschaft nach äußerlichen und hedonistischen Zielen, aber der kleinste gemeinsame Nenner bleibt der (in der Regel auf eine einzige Charaktereigenschaft wie Ehrlichkeit oder Empathie reduzierte) gute Wille.

Eine ultradekadente Gesellschaft hasst das Gute und liebt das Böse. Hier ist es peinlich, ein guter Mensch zu sein; wird von jemandem gesagt, er sei ein guter Mensch, dann wird gemeint, er sei ein Loser und Versager, der sich mit diesem wertlosen Trostpreis begnügen muss. Mit ungestraften Missetaten wird geprahlt, das im Verborgenen getane Gute gilt als Inbegriff der Dummheit. Der ultradekadente Mensch ist stolz auf seine schlimmsten Charaktereigenschaften und betrachtet gute Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen als Zeichen der Schwäche.