Mittwoch, 29. Dezember 2021

Hypervigilanz

 

 

 

Jeder Mensch hat einen serienmäßig eingebauten automatischen Zähler für Freundlichkeiten und Mikroaggressionen. In der östlichen Moraltradition gilt der Spruch, dass jede schlechte Tat mit zehn guten ausgeglichen werden muss, d. h. es wird ein Verhältnis von  Freundlichkeiten zu Mikroaggressionen von 10:1 gefordert, damit die Bilanz ausgeglichen ist.

Die Verhaltenspsychologie ist da etwas optimistischer und hält lediglich ein Verhältnis von 5:1 für notwendig, damit man sich von seinen Mitmenschen gerecht behandelt fühlt. Freundliche Menschen sehen als Balance vielleicht ein Verhältnis von Freundlichkeiten zu Mikroaggressionen von 3:1 oder 2:1, wahrhaft Gerechte, nennen wir sie mal so, 1:1.

Gute Menschen oder Heilige ertragen mehr Mikroaggressionen, als sie Freundlichkeiten fordern. Sie schalten manchmal den Zähler einfach ab und verzeihen ohne Hintergedanken.

Von Hypervigilanz spricht man, wenn das als Balance erlebte Verhältnis von Freundlichkeiten zu Mikroaggressionen den Normalwert von 5:1 bis 10:1 übersteigt. Hypervigilant sind z. B. pathologische Narzissten: Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung fordern ein Verhältnis von 100:1 oder sie halten Freundlichkeiten für selbstverständlich und vergessen sie sofort, jede Mikroaggression halten sie aber lange, manchmal ein Leben lang, im Gedächtnis.