"Ich weinte, dass ich arm war, bis ich einen Krüppel sah",
besagt ein unterirdischer, sprich chthonischer Satz, den manche in
einer schöneren Formulierung kennen. Ich formuliere ihn aber so
hässlich, wie er tatsächlich ist. Was sagt der Satz? A ist arm und
deshalb unglücklich. Dann sieht er B, der ein Krüppel ist, und ist
nicht mehr unglücklich, weil es ihm im Vergleich zu B noch ziemlich
gut geht. Aber wie geht es A objektiv? Hat sich etwas an seiner
Situation geändert? Nein, er ist immer noch arm. Und dennoch darf er
nicht mehr aufmucken, weil es B gibt, dem es noch schlechter geht.
Man merke: um einen Unglücklichen zum Schweigen (oder Zittern) zu
bringen, muss man nur einen noch Unglücklicheren finden, - oder
einen erschaffen. So abscheulich ist die eigentliche Aussage dieses
scheinbar weisen und reflektierten Satzes.
Ich selbst "weinte", als ich unglücklich war, und "weinte"
noch mehr, als ich einen noch Unglücklicheren sah. Wer so herrlich
ist, kann als Vorbild dienen. So sagt mein 18-21-Jähriges Ich zu A:
"Warum vergleichst Du Dich mit B, und nicht mit C? Schau doch
an, wie Du Dein Leben führst, und wie C sein Leben führt, und
schau, wie es ihm geht, und wie es Dir geht!" C ist ein
Arschloch, und es geht ihm gut. A ist kein Arschloch, und es geht ihm
schlecht. Erstens ist eine objektiv bestehende Ungerechtigkeit zu
erkennen, und zweitens, dass B weder daran schuld ist, noch als
Druckmittel dienen kann, A darüber zum Schweigen zu zwingen.
Unglückliche und noch Unglücklichere gegeneinader auszuspielen, ist
scheußlich. Sich auf eine der beiden Seiten zu stellen, und die
andere zu bekämpfen, ist scheußlich. Wer hier nicht bereits an
Flüchtlinge und autochthone Unterschichten denkt, sei an diese
explizit erinnert. Dass es allen gleich schlecht gehen soll, oder
zumindest C seines Glücks zu berauben ist, ist ebenfalls eine
scheußliche Alternative. Keiner schuldet etwas einem unglücklicheren
als er selbst, aber wir als Gesellschaft schulden jedem die Wahrheit.
Die Wahrheit ist, dass es schlecht ist, dass es A (unverdient)
schlecht geht, und dass nichts dadurch besser wird, dass es B noch
schlechter geht.
Wer immer noch an Flüchtlinge und autochthone Unterschichten denkt,
muss nun von ihnen abstrahieren; es geht nunmehr gänzlich abstrakt
um Person A. Was muss sich A nicht alles an böswillgem empathielosem
Schwachsinn anhören? Es lässt sich im Satz: "Stell Dich nicht
so an!" zusammenfassen. Nun stellt sich A nicht so an, um dort
zu stehen, wo er steht, sondern er steht bereits da, im Unglück. Er
ist unglücklich und kann es (derzeit) aus eigener Kraft nicht
ändern. Und er ist nicht selbst daran schuld. Warum fordert man von
A Demut angesichts des noch unglücklicheren B, anstatt
festzustellen, dass beide unglücklich sind, und nichts dafür
können? Um darauf zu antworten, muss man die Frage stellen: Wer ist
man?
1. Man ist C, und weiß, dass man unverdient glücklich ist.
Unverdientes Glück ist flüchtig, und kann einen jederzeit
verlassen. Um das zu verdrängen, schreibt man A die Schuld an seinem
Unglück zu, oder wirft ihm Undankbarkeit angesichts des noch
unglücklicheren B vor.
2. Man ist C, und fürchtet sich vor einer Allianz aus vielen A, die
gegen ungerechte Verhältnisse aufbegehren, also spielt man A gegen B
aus.
3. Man ist B, und ist wütend, dass ein Unglücklicher, dem es zwar
schlecht, aber nicht sehr schlecht geht, sein Maul auftut, während
man selbst sich nicht traut oder nicht darf oder nicht kann.
4. Man ist A, und wurde sein Leben lang beschämt, so dass man es
anderen A nicht gönnt, angehört zu werden. Man ist so verbittert,
dass man sich völlig mit dem A-Zustand identifiziert. Wenn die
anderen A, die man mit Verweis auf B zum Schweigen bringt, die eigenen
Kinder sind, nun, dann ist man durchaus ein Arschloch.