Mittwoch, 1. Februar 2017

Unverdientes Unglück




"Ich weinte, dass ich arm war, bis ich einen Krüppel sah", besagt ein unterirdischer, sprich chthonischer Satz, den manche in einer schöneren Formulierung kennen. Ich formuliere ihn aber so hässlich, wie er tatsächlich ist. Was sagt der Satz? A ist arm und deshalb unglücklich. Dann sieht er B, der ein Krüppel ist, und ist nicht mehr unglücklich, weil es ihm im Vergleich zu B noch ziemlich gut geht. Aber wie geht es A objektiv? Hat sich etwas an seiner Situation geändert? Nein, er ist immer noch arm. Und dennoch darf er nicht mehr aufmucken, weil es B gibt, dem es noch schlechter geht. Man merke: um einen Unglücklichen zum Schweigen (oder Zittern) zu bringen, muss man nur einen noch Unglücklicheren finden, - oder einen erschaffen. So abscheulich ist die eigentliche Aussage dieses scheinbar weisen und reflektierten Satzes.

Ich selbst "weinte", als ich unglücklich war, und "weinte" noch mehr, als ich einen noch Unglücklicheren sah. Wer so herrlich ist, kann als Vorbild dienen. So sagt mein 18-21-Jähriges Ich zu A: "Warum vergleichst Du Dich mit B, und nicht mit C? Schau doch an, wie Du Dein Leben führst, und wie C sein Leben führt, und schau, wie es ihm geht, und wie es Dir geht!" C ist ein Arschloch, und es geht ihm gut. A ist kein Arschloch, und es geht ihm schlecht. Erstens ist eine objektiv bestehende Ungerechtigkeit zu erkennen, und zweitens, dass B weder daran schuld ist, noch als Druckmittel dienen kann, A darüber zum Schweigen zu zwingen.

Unglückliche und noch Unglücklichere gegeneinader auszuspielen, ist scheußlich. Sich auf eine der beiden Seiten zu stellen, und die andere zu bekämpfen, ist scheußlich. Wer hier nicht bereits an Flüchtlinge und autochthone Unterschichten denkt, sei an diese explizit erinnert. Dass es allen gleich schlecht gehen soll, oder zumindest C seines Glücks zu berauben ist, ist ebenfalls eine scheußliche Alternative. Keiner schuldet etwas einem unglücklicheren als er selbst, aber wir als Gesellschaft schulden jedem die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass es schlecht ist, dass es A (unverdient) schlecht geht, und dass nichts dadurch besser wird, dass es B noch schlechter geht.

Wer immer noch an Flüchtlinge und autochthone Unterschichten denkt, muss nun von ihnen abstrahieren; es geht nunmehr gänzlich abstrakt um Person A. Was muss sich A nicht alles an böswillgem empathielosem Schwachsinn anhören? Es lässt sich im Satz: "Stell Dich nicht so an!" zusammenfassen. Nun stellt sich A nicht so an, um dort zu stehen, wo er steht, sondern er steht bereits da, im Unglück. Er ist unglücklich und kann es (derzeit) aus eigener Kraft nicht ändern. Und er ist nicht selbst daran schuld. Warum fordert man von A Demut angesichts des noch unglücklicheren B, anstatt festzustellen, dass beide unglücklich sind, und nichts dafür können? Um darauf zu antworten, muss man die Frage stellen: Wer ist man?

1. Man ist C, und weiß, dass man unverdient glücklich ist. Unverdientes Glück ist flüchtig, und kann einen jederzeit verlassen. Um das zu verdrängen, schreibt man A die Schuld an seinem Unglück zu, oder wirft ihm Undankbarkeit angesichts des noch unglücklicheren B vor.

2. Man ist C, und fürchtet sich vor einer Allianz aus vielen A, die gegen ungerechte Verhältnisse aufbegehren, also spielt man A gegen B aus.

3. Man ist B, und ist wütend, dass ein Unglücklicher, dem es zwar schlecht, aber nicht sehr schlecht geht, sein Maul auftut, während man selbst sich nicht traut oder nicht darf oder nicht kann.

4. Man ist A, und wurde sein Leben lang beschämt, so dass man es anderen A nicht gönnt, angehört zu werden. Man ist so verbittert, dass man sich völlig mit dem A-Zustand identifiziert. Wenn die anderen A, die man mit Verweis auf B zum Schweigen bringt, die eigenen Kinder sind, nun, dann ist man durchaus ein Arschloch.