Dienstag, 11. Juli 2017

Unerfülltes Leben





Was, wenn mein Festhalten an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nur ein Protest dagegen ist, im Leben zu kurz gekommen zu sein? Was, wenn ich aus Mangel an Möglichkeiten, ein glückliches Leben zu leben, an eine kosmische Gerechtigkeit glaube, die es, rational gesehen, aber nicht gibt? Was ich glaube oder nicht ist im ontologischen Sinne egal, ebenso wie es egal ist, ob ich enttäuscht oder verbittert, rachsüchtig oder verzweifelt bin. Die einzige wichtige Frage ist: gibt es ein Leben nach dem Tod oder nicht? Wenn nicht, warum soll ich dann mich an eine weltliche Autorität wenden und flehen: “Meister, lehre mich, wie ich nun leben soll!” - denn wenn nach dem Tod nichts mehr kommt, dann ändert sich der Wert des Lebens vor dem Tod mitnichten: dieses Leben ist mühsam, dreckig, ungerecht, hässlich, geistlos und leer. 


Wer ein relativ glückliches, d.h. nicht völlig beschissenes Leben hatte, kann es nicht in den Tod mitnehmen. Und auch ein schlechtes Leben, d. h. ein für diese Welt typisches, kann man nicht mitnehmen, wenn danach einfach nichts ist. Wer ein entsetzliches Schicksal hatte, wird nicht in alle Ewigkeit an seinen Erinnerungen leiden, und genausowenig wird ein Glückspilz im Jenseits ewig von seinen schönen Erinnerungen zehren können, wenn es kein Jenseits gibt. Wenn es kein Leben nach dem Tod gibt, ist das ewige Nichts, das kommt, für den Unglücklichen eine Erlösung, - und es gibt keinen einzigen Grund, weiter am Leben zu bleiben. 

Es gibt also keinen Grund, die Hoffnung auf Kants moralische Welt aufzugeben, denn sollte sie sich nicht erfüllen, wäre das nichtige hedonistische Glück, das man sich aus moralischen Gründen versagt hätte, angesichts der Endgültigkeit des Todes kein Verlust. Ein Hinterherjagen nach dem kargen Glück in einem trostlosen Leben zum Tode ließe mich am Ende nicht nur verzweifelt und verbittert, sondern auch in größter Selbstverachtung zurück. Das Nichts nach dem Tod würde zwar auch die moralische Katastrophe ungeschehen machen, aber ich ziehe es vor, reinen Gewissens und erhobenen Hauptes in den Tod zu gehen.