Dienstag, 2. April 2013
Selbstundurchsichtigkeit
Für Kant gilt, dass der kategorische Imperativ ohne große intellektuelle Begabung in seiner Richtigkeit einzusehen und in seiner Bedeutung zu begreifen ist. Ein moralischer Mensch handelt, so Kant, aus Pflicht, nicht bloß pflichtgemäß, d. h. die Pflicht ist ihm der unbedingte Bestimmungsgrund seiner Handlungen. Handle so, dass du die Menschheit in deiner eigenen Person wie in jedem anderen Menschen immer als Selbstzweck behandelst, und nie als bloßes Mittel, heißt eine der praktischeren Formulierungen des Hauptsatzes des praktischen Vernunft.
Nun geht man gewöhnlich auch davon aus, dass, wenn man zu etwas verpflichtet ist (ob innerlich oder durch äußeren Zwang), man doch wenigstens stets wissen kann, ob man die Pflicht erfüllt. Das bestreitet Kant aber, was zunächst empörend ist, - aber mal ehrlich: wenn du etwas Ungutes getan hast, das dir eindeutig zugerechnet werden kann, woran du die Schuld trägst, empfindest du aufrichtig Reue, weil du unmoralisch gehandelt hast, oder ärgerst du dich, weil die Tat dir selbst geschadet hat, und nicht die beabsichtigte Wirkung zeigte? Wenn du etwas tust, was moralisch geboten ist, tust du es schon deshalb gern, weil es das Richtige ist, oder immer nur dann, wenn du es sowieso getan hättest? Wenn du mit der Pflicht haderst, weil das Richtige zu tun in einem konkreten Fall mit deinen zufälligen Interessen nicht übereinstimmt, was ärgert dich, - die Schwäche deines Charakters oder der bei richtigem Verhalten zu erwartende Nachteil?
Selbst die eigenen Motive sind einem nicht immer bewusst. Man kann immer nur wissen, ob man pflichtgemäß gehandelt hat, also ob man dasjenige getan hat, was geboten war, - aber nicht, ob man es auch tatsächlich allein aus Pflicht getan hat, und nicht aus anderen verborgenen Motiven. Eine herbe Enttäuschung für die schöne Seele, die sich selbst als edel und rein genießen will, da sie stets das Gute tut, weil es das Gute ist, und das auch noch mit Freude. Eine notwendige Zurückweisung des moralischen Eigendünkels durch den durchdachtesten der Denker, denn Hegel, der erkenntnisreichste, wird zeigen, dass die Moralität als reine Innerlichkeit unmittelbar in das Böse umschlagen kann.