Dienstag, 30. Mai 2017
Dienst und Dünkel
Die Moralität des individuellen Bewusstseins steht wertehierarchisch über dessen Ästhetik, und somit hat der Einzelne kein moralisches Recht, die Welt, in der er lebt, nach seinen ästhetischen Werten zu gestalten. Die Moralität steht jedoch ontologisch unter der Ästhetik, da das Schöne der absolute Selbstzweck überhaupt ist. Das Schöne ist das Bedeutendste, das Gute ist Zweck und Mittel zugleich, das Wahre ist das Grundlegendste.
Die einzelne Person ist ein endliches Wesen, sie kann unabhängig von äußerlich gegebenem Schönen keine vollkommene Schönheit in ihrem Geist entfalten. Der Einzelne kann zwar die Idee des Schönen verstehen, aber sie niemals selbst verwirklichen. Die Idee des Guten kann dagegen auch einseitig verwirklicht werden, denn der Wille ist frei, und das moralische Gesetz kann der Einzelne aus eigener Kraft erfüllen.
Das Leben unter dem Primat des Guten mit dem Ziel der einseitigen Erfüllung des moralischen Gesetzes ist ein Dienst; die zweite, von Gott im Jenseits gegebene Seite (das Wohl, das zum Recht dazukommen muss, damit das Gute vollkommen ist) ist ein Verdienst. Jedes Bestreben, die Welt, in der man lebt, nach ästhetischen Werten zu gestalten ist ein Dünkel: weder hat der Einzelne die Macht, ein Paradies auf Erden zu errichten noch darf er nach dem moralischen Gesetz andere Personen als Mittel zu diesem Zweck benutzen.