Dienstag, 12. Dezember 2017
Das Monster
Ein nihilistischer Umgang mit Kindern, sprich eine Erziehung, die das Kind dazu bringt, unter allen Umständen zu funktionieren, erschafft Monster. Nein, Kinder sind keine Monster, und werden es auch nicht dadurch, dass man ihnen Schaden zufügt. Ich spreche vom Du-darfst-nicht-so-fühlen-Monster, diesem grausamen Biest, das viele Kinderseelen auf dem Gewissen hat. So darf das Kind niemals Gefühle wie Enttäuschung, Wut, Trauer empfinden, sondern muss immer fröhlich und gehorsam sein. Von vielen Kindern ergreift das Monster Besitz, und sie leben auch als Erwachsene all ihre Beziehungen in der Gefangenschaft des Monsters, wobei sie diese Gefangenschaft womöglich als Schutz empfinden: wenn der Andere nicht funktionieren will, wird das Du-darfst-nicht-so-fühlen-Monster herausgeholt, und der Lebenspartner, der gute Freund, das eigene Kind so lange emotional erpresst, bis er lernt, seine wahren Gefühle zu unterdrücken, und die von ihm erwarteten Gefühle vorzuspielen - auch sich selbst. In der Regel zerbrechen dadurch alle Beziehungen - was gut ist, weil das Monster sich dann nicht Sieger nennen darf - , aber eine leider nicht: die Beziehung zum wehrlosesten und schutzbedürftigsten Menschen, zum eigenen Kind.
Die erste Regel in menschlichen Beziehungen muss daher lauten: du darfst so fühlen, wie du fühlst! Es ist das Recht auf nicht nur emotionale Integrität, das in diesem Zusammenhang die obige Formulierung erhält, - es ist auch das Selbstzweckprinzip, dass der Mitmensch niemals bloß ein Mittel zum Zweck sein darf, sondern auch als ein Selbstzweck gesehen werden muss. Nun gibt es - polemisch vereinfacht - zwei Sorten von Menschen, nämlich jene, die selbstsüchtig lieben, und jene, die selbstlos lieben. "Lieben" wohlgemerkt im umgangssprachlichen, nicht im streng wissenschaftlichen Sinne gemeint. Die Selbstsüchtigen versuchen, Menschen, die ihnen wichtig sind, an sich zu fesseln; die Selbstlosen lassen Menschen, die ihnen etwas bedeuten, lieber frei. Beide haben subjektiv-emotional Recht, wenn sie behaupten, aus Liebe zu handeln: die Selbstsüchtigen lieben so sehr, dass sie nicht loslassen können; die Selbstlosen wollen einem geliebten Menschen unter keinen Umständen Leid antun. Was ist daraus zu lernen? Gar nichts, versteht sich, denn an allem sind doch die Erfahrungen in der Kindheit schuld! Ein solcher Fatalismus ist für einen der genannten Typen witzigerweise sehr hilfreich. Aber für die Vollnihilisten sei gesagt: selbst jemand, der nur an sein eigenes Wohl denkt, der keine Skrupel kennt, der es lächerlich findet, nach moralischen Prinzipien zu handen, wird nicht bestreiten können, dass eine Beziehung - egal welcher Art - , die man für den Anderen zum Gefängnis macht, um ihn bloß nicht zu verlieren, rein hedonistisch gesehen, eine Katastrophe für beide Seiten ist.