Mittwoch, 20. Dezember 2017
Das Vaterunser: ein Nichtgebet
Jesus, so glaubt der gemeine Christ, lehrte zu beten:
"So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde. Gib uns heute das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen" (Matthäus 6,9-13, Einheitsübersetzung).
Geläufiger ist der folgende Wortlaut:
"Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]" (Mt. 6,9-13, Luther 1984).
Da aller guten Dinge drei sind:
"So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel! Mach deinen Namen groß in der Welt. Komm und richte deine Herrschaft auf. Verschaff deinem Willen Geltung, auf der Erde genauso wie im Himmel. Gib uns, was wir heute zum Leben brauchen. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir allen vergeben haben, die an uns schuldig geworden sind. Lass uns nicht in die Gefahr kommen, dir untreu zu werden, sondern rette uns aus der Gewalt des Bösen" (Mt. 6,9-13, Gute Nachricht Bibel).
Worum lehrt Jesus zu bitten? Um nichts anderes, als Gott selbst, sein Reich, seinen Willen, seine Eigenschaft als Welterhalter; um die Barmherzigkeit, die im Wesen Gottes bereits enthalten ist - um nichts, was nicht schon da ist.
Das Vaterunser handelt vom Allgemeinen und von Gott, nicht von einzelnen Wünschen und partikularen Interessen. Das Gebet um täglich Brot ist keineswegs als eine Aufforderung der Beseitigung des Hungers in der Welt zu verstehen, sondern: erhalte uns als Menschen, erhalte die Menschheit.
"Dein Wille geschehe" bedeutet, dass der Betende jeden besonderen Wunsch vor Gott aufgibt und seinen Willen dem göttlichen Willen unterordnet - was nicht heißen soll, dass er seine persönlichen Wünsche und Ziele aufgibt und auf seinen individuellen Willen verzichtet: er bittet Gott nur nicht darum, Gott möge seinen einzelnen Willen über den Willen anderer Menschen und Gottes selbst setzen.
Hieraus muss deutlich werden, dass das Vaterunser - formal ein Gebet - ein Nicht-Gebet ist, kein Gebet in der geläufigen Bedeutung. Das Vaterunser bezeugt, dass der so betende Christ darauf verzichtet, Gott wie eine Kuh melken zu wollen. Das Vaterunser besagt im Grunde nichts als: Gott, du bist Gott.
Warum der Christ - über das bereits Gesagte hinaus - es sich dreimal überlegen und sich siebenmal bekreuzigen sollte, bevor er im herkömmlichen Sinne betet, soll an den folgenden Thesen deutlich werden:
1. Wer betet, versichert sich seines Glaubens vor sich selbst. Beten ist Glaubenstraining für schwachen Glauben. Wes Glaube stark ist, braucht sich nicht seines Glaubens zu versichern, sondern hat ihn in allen Launen und Lebenslagen.
2. Wer für einen Anderen betet, beleidigt diesen und Gott, da er sich erstens näher zu Gott wähnt als dieser Andere und zweitens Gott näher bei sich glaubt als bei dem Anderen. Mag der, für den man groberweise betet, gottlos sein, so gibt es dennoch keinen Grund, Gott zu unterstellen, sich um diesen Gottlosen weniger zu sorgen als um den Gläubigen.
3. Wer betet, um Gott zu gefallen, gefällt sich selbst in dieser Alibiveranstaltung; anstatt durch seine Lebenshaltung Gott zu gefallen, will er magischerweise durch Worte und Gesänge Gott eine Ehre erweisen. Ein derartiges Beten ist selbstbetrügerisch und gottlos.
4. Wer Beten für ein gutes Werk hält, soll aufhören zu beten. Nur Gott kann durch sein Wort gute Werke wirken, und wer durch blosse Worte gute Werke zu wirken glaubt, maßt sich an, wie Gott zu sein.