Freitag, 11. Oktober 2019

Der Omega-Joker




Im vielbejubelten Film „The Dark Knight“ (2008) ist der Joker, wichtigster Schurke in Batmans Welt, ein Gamma-Mann. Deshalb wurde der von Heath Ledger verkörperte Joker, dieser abscheuliche Psychopath, von den Medien gefeiert. Er hat weder polarisiert noch hat er Vorwürfe wie „gewaltverherrlichend“ geerntet, sondern wurde durchweg gelobt. Mit dem „Joker“ (2019), gespielt von Joaquin Phoenix, verhält es sich nun anders: das ganze verfügbare Buzzword-Bingo-Arsenal wird abgefeuert und der Film in den amerikanischen und deutschen Medien sogar als gefährlich bezeichnet (was man ansonsten aus den Medien autoritärer Staaten kennt).

Hollywood ist eine Gamma-Traumfabrik: die Gamma-Männer ähneln von allen Männern am meisten den Frauen, wähnen sich als „heimliche Alphas“, tagträumen davon, „entdeckt“ oder „erkannt“ zu werden, sind in der Regel narzisstische, verwöhnte Kinder mit unbegründeter Anspruchshaltung, voller Neid und Selbstmitleid. Aber sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft: der Gamma-Rang ist gegenüber den Durchschnittsmännern, der stillen Mehrheit der Deltas, privilegiert. Der neue Joker ist ein Omega-Mann in der soziosexuellen Hierarchie. Und damit bricht der Film ein grundlegendes Tabu: er fordert Empathie (nicht zu verwechseln mit Sympathie) für einen Omega.

Der Omega hat in unserer Gesellschaft unsichtbar zu sein, er gehört zur Kaste der Unberührbaren. Selbstverständlich ist ein Omega in der Regel auch ein „Incel“, ein von Frauen verachteter oder für Frauen unsichtbarer Mann, weil er eben in der Hierarchie ganz unten ist. Während die Gesellschaft dem Selbstmitleid des Gamma mit Empathie begegnet, ignoriert sie das tatsächliche Leid des Omega. Er hat es am schwersten, aber sein Leid zu thematisieren ist tabu. Die Gesellschaft nimmt gegenüber dem Omega-Mann die Position des Bonzen im Film ein: für die Gesellschaft sind die Omegas „Clowns“, Loser, an allem selber schuld. Darum werden auch die Incels nicht als leidende Männer gesehen, was sie in erster Linie sind, sondern als Frauenhasser.

So lässt sich die Verweigerung der Empathie gegenüber den Omegas rechtfertigen: man wirft ihnen ebendas vor, was die Folge des zynischen und mitleidlosen Verhaltens der Gesellschaft ihnen gegenüber ist, uns sagt dann, dass sie, weil sie so hasserfüllt und verbittert sind, kein Mitgefühl verdienen. Es ist ein universelles psychosoziales Gesetz, dass die Gesellschaft den benachteiligen Gruppen die Folgen der Benachteiligung als ihre eigene Schuld vorwirft. Der neue Joker-Film macht das Gegenteil: er hält der Gesellschaft den Spiegel vor. Die Gewalt des Jokers wird nicht mehr verherrlicht und sein Nihilismus nicht mehr romantisiert als in „The Dark Knight“, aber Ledgers Joker hatte Anspruch auf Empathie, weil er ein Gamma war, und dieser Omega-Joker ist, was jeder Verreißer des Films denkt und nicht ausspricht, nur Abschaum, und wie kann man es nur wagen, diesen Abschaum zu vermenschlichen!