Mittwoch, 11. August 2021

Das Glücklichenparadox

 

 

 

Aus Beobachtung, Erzählung und Erfahrung weiß ich, dass glückliche Menschen sich weniger als unglückliche um ihr Leben sorgen, während unglückliche Menschen sich im Leben mehr Sorgen machen und auch mehr Angst vor dem Tod haben. Der, dem es gut geht, müsste doch das Leben mehr schätzen und den Tod mehr fürchten als jemand, der "eh nichts zu verlieren hat"? Doch dem ist nicht so. Das ist scheinbar ein Paradox.

Glück ist ein positives Gefühl. Es wird nicht als Abwesenheit von Unglück erlebt (wie Schopenhauer behauptet). Leben und Tod gehören zusammen, das Gegenteil beider ist das Nichts (Gumiljows weise Einsicht). Wer glücklich ist, dessen Glücksgefühl überträgt sich auch auf die Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit, und der Tod erscheint nicht mehr als Bedrohung des mit dem Leben verbundenen Glückszustandes. Der Glückliche nimmt das Leben wie es kommt, er ist ja zufrieden damit. Glücklichsein ist kein Abstraktum, das sich über eine bestimmte Jahreszahl an Lebenserwartung erstreckt, sondern etwas Konkretes, das im Jetzt erlebt wird. Daher gibt es bei glücklichen Menschen keinen Erlebnismaterialismus und auch keine Sorgen um die Zukunft. Ich bin jetzt glücklich; sterbe ich heute, so sterbe ich so glücklich, wie ich gerade bin.

Unglück ist ein negatives Gefühl. Es ist die leidvolle Abwesenheit von Glück, das man begehrt und sich vorstellt. Unglückliche haben die Sorge, das erhoffte Glück nie zu erleben und auch die Angst, dass ihr Leben endet, bevor sie Glück erlebt haben. So klammern sie sich an das Leben und fürchten den Tod. Oder sie klammern sich an den Tod als das Versprechen eines glücklichen Jenseits und hassen das Leben, können es aber nicht beenden, weil sie nicht sicher sind, ob etwas nach dem Tod kommt, und was das sein wird. Sterben, ohne gelebt zu haben, ist keine glückliche Aussicht; aber auch das Weiterleben im unglücklichen Zustand macht nur Angst und Sorgen.