Sonntag, 14. August 2022

Das Solare IV: Die Reinheit

 

 

 

 

Auf der geistigen Weltkarte ist dem Schönen nicht das Hässliche, sondern das Ekelhafte, das absolut Unreine, kontradiktorisch entgegengesetzt. Dem Schönen entspricht das Ideal der Reinheit.

Eine Welt, deren Sinn nur darin besteht, dass es guten Menschen gut, und schlechten schlecht geht, muss nicht existieren. Es ist sogar besser, wenn sie nicht existiert: dann wäre nämlich das Leid, das die Schlechten erst für andere und in zwingender Konsequenz auch für sich selbst verursachen, abgewendet. Kein Glück kann Leid ab einem bestimmten Schweregrad aufwiegen. Nur ein höherer Sinn rechtfertigt großes Leid.

Kants moralische Welt, die sich im Guten erschöpft, ist selbst nicht gut, weil das Gute, Glückseligkeit als Folge ihrer Würdigkeit, sich letztlich im Hedonismus erschöpft. Es muss einen Wert geben, der ein absoluter Zweck ist, damit die Welt einen Sinn hat.

Woher kommt aber das Erkenntnisinteresse für den absoluten Zweck der Welt? Von der Vitalspannung, die letztlich die Willensstärke angibt. Der schwache Wille ist hedonistisch, ein stärkerer Wille lunar-kompetitiv, erfolgsorientiert, noch stärker ist der Wille zur Macht, und der stärkste Wille ist der Wille zum Wert.

Und wo ist der gute Wille? Er befindet sich auf der Skala zwischen dem heroischen Willen zur Macht und dem apollinischen Willen zum Wert, und ist asketisch. Kant machte also das Asketische zur Grundlage der Moral, und der Zweck des Askese sollte der vollkommen befriedigte Hedonismus sein: die Befriedigung aller Neigungen in höchster Intensität und Dauer, oder, wenn dem der Glückseligkeit Würdigen alles nach Wunsch und Willen geht.

Das Solare III: Die Moralität

 

 

 

 

Ist die Moralität selbst deskriptiv oder normativ zu betrachten? Moralitätsimmanent nur normativ. Ist Kant dann ein moralitätsimmanenter Denker? Der Zweck des Universums, die Antwort auf die Frage, warum, im Sinne von wozu, etwas ist und nicht nichts, heißt bei Kant die moralische Welt. Das ist eine Welt, in der die Würdigkeit, glücklich zu sein, zur Glückseligkeit führt, und die Unwürdigkeit entsprechend in die Hölle.

Moralphilosophen können keinen kategorischen Imperativ empfehlen, sie betrachten die Moralität deskriptiv von unten. Sie weisen auf die Aporetik von Kants KI hin, und zeigen, dass der gute Wille, nach Kant das einzig Gute, was es überhaupt geben kann, zu bösen Überzeugungstaten führt. Die anthropologische Trias als eine Theorie der Tiefen- oder Ethnosoziologie betrachtet die Moralität deskriptiv von oben: die Moralität zu verabsolutieren, ist dasselbe, wie die Rationalität zu verabsolutieren, und darum das Solare nicht an die Spitze der Hierarchie, sondern gleich als absolut zu setzen.

Kants Kritik der Moral zeigt, dass die Moralität eine Disziplin der Vernunft ist. Hegel zieht sie mit der Aufhebung in die Sittlichkeit aus der Subjektivität ins Intersubjektive. Doch es bleibt beim reinen Denken. Und das Handeln muss sich nach dem Denken richten. Damit ist die Moralität das imaginäre Reich des Sollens, dessen Übertretung keine realen Konsequenzen hat. Erst wenn die Moralität verrechtlicht wird und eine allgemeingültige Ethik begründet, hat moralisches oder unmoralisches Handeln echte Konsequenzen.

Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist eliminatorisch: das Böse ist das, was nicht sein soll. Das Handlungsimperativ gegenüber dem Bösen lautet somit: Vernichtung. Die Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht ist hierarchisch: steht die Hierarchie, leben wir in der Hochkultur, fällt sie, regiert die Dekadenz.

Die Moralität ist keine leere Form der Gesetzmäßigkeit, ihr liegen Werte zugrunde. Der Mensch handelt moralisch, weil er bestimmte Werte anstrebt, und nicht, weil er eine moralisch korrekte künstliche Intelligenz nachahmen will. Die Werte verhalten sich hierarchisch zueinander, die Hierarchie der Werte ist nicht beliebig. Je höher ein Mensch in der anthropologischen Trias steht (hier ist die Leiter, aufsteigend: chthonisch, tellurisch, lunar, heroisch, asketisch, apollinisch), umso klarer erkennt er die wahre Hierarchie.

Das Solare II: Das Denken

 

 

 


Das Denken ist ein geistiger Gewaltakt, mit dem Denken kann man die Welt vergewaltigen. Das Denken kann idealistisch oder reduktionistisch sein. Das pure Denken kann die Welt nicht verstehen (nur in Verbindung mit Intuition), und darum wäre die reine Vernunft redlich, wenn sie nicht vom Verstehen, sondern vom Konstruieren spräche.

Die Vorstufe des Denkens ist das Vorstellen. Das Ziel des Denkens ist das Finden der Wahrheit: der Übereinstimmung des Gedankens mit seinem Gegenstand. Das Verhältnis des Denkens zum Gedachten kann in Meinen (ohne Gewissheit der Wahrheit), Glauben (subjektive Gewissheit) und Wissen (subjektive und objektive Gewissheit) nach Kant unterschieden werden. Kant war der Denker schlechthin. Die alten Griechen hatten sich noch auf Intuition verlassen: Platon, ja selbst Aristoteles, dachten intuitiv.

Hegel folgte einserseits den von ihm verehrten alten Griechen (von den Denkern der Neuzeit hielt er nicht viel), doch verfiel auch dem Wahn des reinen Denkens: vom intuitiven Verstand des Phänomenologie des Geistes, dessen Gebrauch er von Goethe gelernt haben soll, findet sich in seinem späteren System nicht mehr viel. Er fasste die Welt als einen Gedanken und verfehlte damit ihr Wesen. Das Solare ohne Bezug auf das Tellurische und Lunare kann nur Luftschlösser bauen.

Der Selbstversicherung des Seins durch das Denken folgt die rationale Wissenschaft nach dem Subjekt-Objekt-Modell. Der Wissenschaftler ist das denkende Subjekt, das mit seinem angeborenen Erkenntnisapparat und dessen künstlichen Hilfsmitteln die Welt erkennt. Kants "Kopernikanische Wende" vollzieht sich schon mit Descartes, der nicht vom "Es ist", sondern vom "Ich bin" als Grundlage der Wissenschaft ausgeht. Fichtes Selbstsetzung im "Ich=Ich" ist das zu Ende gedachte reine Denken. Die Frage ist aber, wie kann sich ein radikal subjektives Denken noch auf das Sein beziehen? Und zwar nicht auf das Sein des erkennenden Subjekts, welches, was nochmal, erkennt? Ach, richtig: sich selbst.

Das Solare I: Der Eremit

 

 

 

 

Nach 15-jähriger selbstauferlegter Leidenszeit als asketischer Mann mit gar noch höherem spirituellen Potenzial wurde ich in diesem Sommer zum apollinischen Mann, dem höchsten im Menschlichen. Laotses/Zhuangzis höherer Mensch ganz und gar; zu sagen, ob auch Nietzsches Übermensch, könnte nur Nietzsche selbst, der dafür zu viel Interpretationsspielraum gelassen hat. Jedenfalls bekommt man keine Superkräfte: mir sind keine Flügel gewachsen, ich kann kein Feuer spucken, könnte dich zwar töten, aber nicht, indem einen Lastwagen auf dich schmeiße. Mit der menschlichen Schwäche, mit den Beschränkungen der conditio humana den großen, den inneren Dschihad gewinnen, darum geht es.

"Dein spritueller Erfolg macht dich aber nicht zu einem nützlicheren Ochsen", stellt die tellurische, mütterliche Frau fest. Das ist freilich wahr. Doch ich war auch vorher nie ein Ochse. Ich tat Gutes stets aus Güte, nie aus dem Bestreben, jemandem nützlich zu sein. "Dass du ein apollinischer Mann bist, macht dich aber nicht sexuell attraktiv", tönt die Bitch, die Schlampe, die chthonische Frau. Das stimmt wiederum auch, aber ich war auch vorher nicht sexuell attraktiv, und wollte es nie sein. Ich empfinde es sogar als belästigend, wenn Frauen mich sexuell attraktiv finden (aus Erfahrung gesprochen); allenfalls scherzhaft, dann habe ich nichts dagegen. Natürlich habe ich nichts gegen die unschuldige körperliche Zuneigung einer Jungfrau, der apollinischen Frau, die aber zu kindlichem Körperkontakt hinführt, nicht zu Sex.

Ich bereue nicht, gütig und geduldig gewesen zu sein. Auch die wenigen Ausbrüche des Zorns, die nie Gewalt waren, bereue ich nicht: auch Heilige sind nur Menschen. Und ich bin froh, kein Heiliger mehr zu sein, sondern, um es in meinen Begriffen des Jahres 2004 auszudrücken, ein Weiser. Das war die Zeit, als ich mit 21/22 einen Highspeed-Buddhismus praktizieren wollte, um vom heroischen Mann bzw. der existentiellen Entwicklungsstufe in wenigen Monaten zum Heiligen und dann bis spätestens Ende 2005 zum Weisen zu werden, ohne Meditation und dergleichen, versteht sich. Den Weg bin ich schließlich auch gegangen, aber er war länger und leidvoller; hätte ich mit 21 gewusst, wie lang und leidvoll, hätte ich mich für den Suizid entschieden.

Ein solarer Mann ist auch in der Großstadt ein Eremit. Er hat den Geist eines Eremiten, er ist auch unter Menschen immer bei sich selbst. Nur wenige gleichwertige Geister können im Laufe eines hohen Lebens getroffen werden, und diese Begegnung ist ein Fest, keine Selbstverständlichkeit. Ein höherer Mensch muss aber auch damit rechnen, im Laufe seines irdischen Lebens nie auf den Geist zu treffen, der ihn begreift.

Das Lunare IV: Das Leben

 

 

 

 

Das Prinzip des Lebens ist der Dualismus von Gleichwertigem: Tag und Nacht, Mann und Frau, Liebe und Streit. Eliminatorischer Dualismus (Gut und Böse) oder klassistischer Dualismus (Gut und Schlecht) sind solar. Empedokles und Heraklit sind lunare, dionysische Philosophen, Parmenides und Platon sind solar, Epikur und die Kyniker chthonisch-tellurisch.

Lunar ist der konträre, nicht der kontradiktorische Gegensatz. Laura non c′è bedeutet auch ci sei te. In der romantischen Liebe bedeutet die Abwesenheit der Geliebten nicht die Gegenwart einer anderen Frau, sondern den gähnendleerdunklen Abgrund des Nichts. Die Schwelle zum Solaren befindet sich dort, wo das Leben für einen höheren Wert negiert oder transzendiert wird (das Transzendieren ist ein Hegelsches Aufheben: Negieren und Bewahren). Der Suizid aus verschmähter, verlorener, versagter Liebe ist aber lunar, weil der wahre Grund der verletzte Stolz des Liebenden, und damit weltimmanent ist.

Lunar sind die Tages- und Jahreszeiten, die die tellurische Ordnung beherrschen. Der lunare Mensch kehrt diese Ordnung für sich um: Liebende treffen sich in der Nacht, der späte Abend, nicht der geschäftige Morgen, ist die ideale Arbeitszeit für den Künstler; Genies sind keine Chaoten, sie leben nicht außerhalb, sondern überhalb der Ordnung der Dinge.

Die Göttin der Liebe und der Gott des Krieges sind Liebhaber; dem rationalen Rhetoriker Hermes steht der irrationale Gott des Rausches, Dionysos, gegenüber. Die Vorstellung und das Denken, die aus dem Solaren kommen, imitieren das Lunare, um nicht lebensfremd zu wirken: der transzendente Gott ist unerreichbar, also schickt er seinen Sohn auf die Welt, der nicht nur anfassbar, sondern auch tötbar ist. Ein sich verabsolutierender Gedanke wird zur These, sein Gegenteil zur Antithese, und wir haben entweder eine Aporie oder ein Synthese.

Kants Antinomien zeigen, dass das Leben widersprüchlich ist, und nicht vollständig im Geist aufgeht. Würde der solare Reinheitswahn, um die Reinheit des Seins zu bewahren, das Tellurische und Lunare vernichten, das Resultat wäre nicht reines Sein, sondern Nichts. Dem Lunaren ist Regime-Immanenz fremd, da es zwischen dem Solaren und dem Chthonisch-Tellurischen steht. Das reine Denken verabsolutiert gern sich selbst, aber auch die Dummheit setzt sich selbst absolut. Hegels Feststellung "Der Geist kann die Dummheit nicht zwingen" ist nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ zu verstehen: die tellurischen Menschen brauchen Herrscher aus höheren Ordnungen, die durch physische Gewalt etwas faktisch durchsetzen können, denn in der tellurischen Ordnung gilt nur die normative Kraft des Faktischen.

Das Lunare ist seinem Wesen nach selbstironisch: das Leben ist leicht. Es ist der Kampf gegen das Leben, der schwer ist: entweder der titanische oder tellurische Kampf von unten oder die solare Unterdrückung des Lebens durch den Geist, wie sie sowohl politisch bei der Durchsetzung von Ideologien als auch privat bei Kopfmenschen vorkommt, die das Irrationale, und damit das Leben, aus ihrem Leben verbannen wollen.

Samstag, 13. August 2022

Das Lunare III: Die Erotik

 

 

 

 

Die Erotik ist alles, was mit geschlechtlicher Liebe und Begierde zu tun hat; wohlgemerkt: mit der geschlechtlichen, nicht der zwischengeschlechtlichen. Erotik ist immer auch Homoerotik, weil der eigene Körper ein Lustobjekt ist. Der Mythos von zwei getrennten Teilen eines überseienden Ganzen, die ihre bessere Hälfte suchen, um sich wieder aus dem Sein zu transzendieren, bezieht sich nicht explizit auf Mann und Frau, aber auf die männlichen und weiblichen Potenzen.

Zeus zeugte Artemis, Apollo und Athene als Kopfgeburten, um nicht von der nächsten Göttergeneration gestürzt zu werden. Die Prophezeiung erfüllte sich jedoch, indem Ares, Hermes und Dionysos ihn stürzten: die dionysischen Religionen, an ihrer Spitze das Christentum, beerbten die antike Götterwelt, zu der die Menschen keinen lebensweltlichen Bezug mehr hatten. Das Wort und das Schwert standen dem Dionysos Jesus bei der Eroberung bei.

Hera zeugte aus Rache durch Parthenogenese Hephaistos. Anders als die solaren geistigen Kinder des Jupiter war dies ein hässliches chthonisch-titanisches Männchen, dem die Götter dann zum Trost die ultimative Dirne schlechthin, die Göttin der erotischen Liebe, zur Frau gaben. Doch Aphrodite betrog ihn mit dem Kriegsgott Ares. Hephaistos baute den Betrügern eine Falle, die sie im Bett durch unsichtbare Netze festhielt. Dann rief er die Götter. Homerisches Gelächter. Lachten die Götter über die Liebenden oder über den Gehörnten? Die Moral der Geschichte ist ja, dass man Liebe nicht erzwingen kann.

Aphrodite wird oft den Kindern des Zeus zugeordnet, stammt aber vom durch Kronos entmannten Uranos ab, und zwar nach dessen Entmannung: seine ins Meer geworfenen Geschlechtsteile befruchteten dieses, und auf die Insel Kythera kam kein Säugling, sondern eine voll entwickelte junge Frau aus dem Meer. Die erotische Liebe hat mit Mutterschaft und Brutpflege nichts zu tun, und so ist die Frau erotisch am Begehrenswertesten, die denkbar weit von diesen beiden Potenzen des Weiblichen entfernt ist.

Die Erotik ist nicht mit der Sexualität gleichzusetzen: die tellurische, naturgebundene Geschlechtlichkeit regiert im Reich der Notwendigkeit, die Erotik ist dagegen luxuriös. Die erotische Liebe ist magisch, übernatürlich. Die erotische Begierde ist gefährliche Magie, die zum Sturz ins Chthonische führen kann wenn die Liebe zur Form zur Lust nach Materie degeneriert.

Die durch Monogamie gebändigte erotische Liebe bildet den Übergang vom Lunaren zum Tellurischen; die ins Geistige übersteigerte romantische Liebe erhöht sich vom Lunaren zum Solaren. Rein lunar ist das willkürliche verspielte Walten des Eros.

Das Lunare II: Der Hagestolz

 

 

 

 

Situationskomik: ein Mann, dionysisch oder höher, ist mit einer Frau befreundet. Die Frau findet ihn nicht sexuell attraktiv, er findet die Frau von ihrem Stande zu plebejisch. Beide sind nicht sexuell aneinander interessiert, und beide befürchten, sexuelles Interesse voneinander zu erfahren; sie sexualisieren damit andauernd einander (auch negative Sexualisierung ist Sexualisierung), und ihre Freundschaft zerbricht.

Ja, der Hagestolz ist wählerisch: er wird in der Jugend nicht so-Irgendeine bzw. Irgendsoeine knallen, um "es" getan zu haben. Er hat, wie die Frau selbst, und im Gegensatz zum Ochsen, ästhetische Ansprüche. Er betrachtet die Sexualität hedonistisch. Andere tun das etwa nicht? Der chthonisch-tellurische Mann, unser Ochse, sozialisiert sich durch Sexualität: "eine Freundin haben", ist Pflicht, und auch die Hetze gegen "Loser" (die keine haben) oder Schwule darf nicht fehlen. Der Ochse hat in Wirklichkeit keinen Sex: der Sex hat ihn.

Aber der lunare Verführer, der Dionysiker, der hat Sex. Er genießt ihn. Homoerotischerweise genießt er, wie die Frau, beim Sex auch sich selbst; bei der Verführung geht es oft weniger um die Verführte als um den Verführer. Oft ist das Verhalten eines solchen Mannes von dem eines Narzissten nicht zu unterscheiden, aber bei der genauer Betrachtung bietet er der Frau Spaß und hedonistisches Glück, der Narzisst parasitiert und zerstört sein Opfer emotional. Frauen, die spielen wollen, wollen nicht mit Ochsen spielen. Der lunare Mann ist ein erotischer Spielgefährte.

Ein vortrefflicher dionysischer Mann ist selbstironisch: er weiß, dass er nicht im Höchsten das Höchste sucht. Er sucht im Sex eine weltimmanente Transzendenz (die als solche auch Tieren und chthonisch-tellurischen Menschen zur Verfügung steht); eine überweltliche Transzendenz wäre zwar die Erlösung, aber er tut so, als würde er sie nicht sehen. Doch vom permanenten Heartbreak, der Verliebtheit und Enttäuschung, dem Karussel des Eros, will er natürlich erlöst werden, weil die schlechten Erfahrungen die guten nunmal überwiegen. Ein erfolgreicher Lunarist, ein Don Juan, dem alles gelingt, ein James Bond, der nur nach Lust lebt, und ständig Lebenslust verspürt, ist in Schopenhauers Wille und Vorstellung der Lockvogel der Natur, der uns von der logisch einzig sinnvollen Verneinung des Willens zum Leben weglocken soll: rein ins pralle Leben!

Das Lunare I: Das Spiel

 

 

 

 

Das Hinspiel ging unentschieden aus. Rückspiel im Champions-League-Halbfinale. 6. Minute, 1:0 Inzaghi. 11. Minute, 2:0 Inzaghi. Es geht 2:3 aus der Sicht von Juventus Turin aus. Der Gegner ist Manchester United. 1:0 Basler. Letzte Minute, das Spiel ist gelaufen. Bayern München ist Champions-League-Sieger. Nur noch 3 Minuten Nachspielzeit. 1:1 Sheringham, 1:2 Solskjaer. Und der Mars dieser Ilias heißt David Beckham.

Warum muss eine Mannschaft erst in Rückstand geraten, um ein großes Spiel zu zeigen? Vor der Schlacht bei Azincourt wurde der König der Engländer von den Franzosen gejagt, und die Seuche meuchelte einen großen Teil seiner Armee. Doch in der Schlacht vernichtete er die französische Armee fast ohne eigene Verluste. Ares steht gern mit dem Rücken zur Wand. Dionysos ist ein Grenzgänger. Das lunare Prinzip kommt ohne Spiel nicht aus.

No risk, no fun. Da Sinn und Zweck des Risikos hedonischer Art sind, stammt dieser Spruch wohl von einem lunaren ENTP. Ares kämpft nicht für Mutter Heimat bzw. das Vaterland. Das Duell ist für einen dionysischen Hagestolz keine Zwangshandlung aus verletzter Ehre, sondern eine aufregende Herausforderung. Im härtesten Kampf fehlt Mars jede Spur von Bitterkeit: er bleibt heiter.

In der Regel ist uns wichtig, was jemand sagt, wenn wir eine Debatte hören. Aber hört man einem Niall Ferguson beim Diskutieren zu, bewundert man das Wie und wünscht, er würde für einen Standspunkt streiten, der totaler Nonsens wäre, weil er gewinnen könnte. Spiel bringt Bewegung ins Leben, das Verängstigte und Erstarrte löst sich. Ohne Spaß kann sich Verbitterung nicht in Humor auflösen; man kann nicht trotzdem lachen, wenn man überhaupt nicht lachen kann.

Bayern München war im Chamipons-League-Finale 1999 ein schlechter Verlierer. Nach einem Spiel hadert man nicht mit dem Schicksal, sucht nicht den Schuldigen, sondern gratuliert dem Sieger und lacht über sich selbst: wie konnte man diesen sicher geglaubten Sieg noch in letzter Sekunde hergeben? ...Was zur Hölle ist Versailles? Vae victis! Das ist eine Demütigung! Brennus, der unerbittliche Barbar, wirft sein Schwert in die Waagschale. Und die Römer sind am Boden zerstört.

Jamukha hatte seinen Spaß im mongolischen Bürgerkrieg. Er war listig in der Täuschung und vortrefflich im Kampf. Er hatte Temüdschin einmal sogar besiegt und gefangen genommen. Doch am Ende siegte der spätere Dschingis Khan, und als Jamukha die Größe seiner Sache bewusst wurde, da bat er um den eigenen Tod. Jamukha wollte nur spielen, Temüdschin wollte die Welt erschüttern. Und Jamukha hat nicht vor der Überlegenheit seiner Armee, sondern vor der großen Persönlichkeit Dschingis Khans kapituliert.

Das Tellurische IV: Das Ressentiment

 

 

 

 

Die von Nietzsche kritisierte Sklavenmoral ist das tellurische Mindset: der tellurische Mensch sieht sich selbst als Objekt, als Spielball äußerer Mächte des Wetters, der Reichen und Schönen, der Politik. Der Bauer kann nichts für das Wetter, er ist ihm wehrlos ausgeliefert. Geld regiert die Welt: der Angestellte muss ja seinen bullshit job machen. Sie war zu hübsch und ihr Rock war zu kurz: da sind mit dem Vergewaltiger die Pferde durchgegangen. Wahlen ändern eh nichts, sonst wären sie verboten, seufzt der Küchenrevolutionär, der noch im Geschichtsunterricht gelernt hatte, wie oft schon das Volk ein ungerechtes Regime zum Einsturz gebracht hat.

Der Tellurist ist Bauer, Kleinbürger, Spießbürger. Er ist Null-Passionarier. In der Dekadenz kann er zum Subpassionarier degenerieren: das wäre jemand, der seine Triebe nicht beherrschen kann, und drogensüchtig, adipös oder/und alkoholabhängig wird. Dieser kann aber in der Ultradekadenz noch zum Sub-Subpassionarier weiter degenerieren: das wäre nun jemand, der seine unberrschten Triebe nicht einmal mehr befriedigen kann. Dann fordert der Fette body positivity, bzw. das Aufhören von bodyshaming, der Hässliche fabuliert von nichtbinären sexuellen Identitäten, um seine Intimsphäre in die Öffentlichkeit zu tragen und jedem unter die Nase zu halten, der Loser faselt von Polyamorie, die er okay findet, womit aber gemeint ist, dass ein anderer Mann Sex mit seiner Frau/Lebenspartnerin/Freundin hat, ohne dies geheimzuhalten.

Das chthonisch-tellurische Regime ist wie die Erde mit ihrer überirdischen Welt der Ähren und Baumkronen und dem unterirdischen Reich der Wurzeln im verwesenden Humus. Der essende und sprechende Mund, die arbeitenden Hände, die stämmigen Beine sind tellurisch, das Darmwerk und der Anus chthonisch. Dass die Gedärme tief im Körperinneren versteckt sind, ist das Werk der Natur. Dass der Anus in der Unterhose versteckt ist, ist das Werk der Kultur. Ohne die verborgene Verdauung wäre das gemeinsame Essen sinnlos. Das Tellurische kann als die Benutzeroberfläche des Chthonischen gesehen werden dann wäre das Tellurische aber nur die Illusion, die sich das Lunare vom Chthonischen macht. Die Materie wäre das Böse, das, was nicht sein soll, denn sie wäre grundsätzlich formlos, und Formen wären nur das auf die Materie projizierte Licht.

Die Materie kann aber auch als Grundlage der gesunden Natur betrachtet werden, in der die Hierarchie, die heilige Ordnung des Seins, eingehalten wird, heilig, weil sie das Unheil abwendet, das mit der Herrschaft des Chthonischen und Titanischen der Natur und der Kultur droht. Doch wie kann es eine positive, ressentimentfreie Moral der Beherrschten geben, die keine Sklavenmoral wäre? Kann die Mediokrität zum Vortrefflichen grollfrei aufschauen, ohne ungerecht zu finden, dass dieser vortrefflich ist? Kann der Spießbürger glücklich sein, ohne seine Schwäche in Güte umzuinterpretieren, und in der Güte eines Vortrefflichen seine eigene Schwäche gespiegelt zu sehen? Mit der offenen Frage ist das Tellurische verlassen, und das Tor zum Lunaren aufgestoßen, denn das tellurische Weltbild kennt keine offenen Fragen: es ist geschlossen.


Das Tellurische III: Der Ochse

 

 

 

 

Für den phallischen Mann gibt es nur den phallischen Mann. Der lunare, dionysische Mann erscheint diesem als ein prätentiöser, wählerischer Hagestolz ("Wie du hast Standards?" Oder: "Es gibt keine hässlichen Weiber, es gibt nur zu wenig Alkohol!") bzw. als eine "Schwuchtel". Der Held und der Heilige sind "Psychos", der apollinische Mann ist so unbegreiflich, dass es keine feststehende, sondern jeweils nur eine emotional-situative Abwertung für diesen gibt.

Aber Ochse ist nicht gleich Ochse! Natürlich verstehen der chthonisch-phallische und der tellurisch-phallische Mann gleich wenig von Kultur, Kunst und Schönheit. Alles Höhere ist ihnen unverständlich, und darum suspekt. Doch der chthonisch-phallische Mann sieht den tellurisch-phallischen Mann nochmal anders als sich selbst, und zwar mit dem Blick des Verbrechers: Das ist der arme Ochse, den er abziehen kann! Der tellurisch-phallische Mann hat meistens eine primitive, aber doch, Moral, der chthonisch-phallische Mann hat keine.

Tellurisch-phallische Männer sind die guten Ochsen der Gesellschaft. Die meisten Familienväter sind tellurische Männer. Die Fuckboys der alleinerziehenden Mütter sind dagegen eher Verbrechertypen, chthonische Männer. Der Motherfucker bezeichnet sich selbst stolz als "G", d. h. als Gangster. Der Männerabschaum ist nicht nur vaterlos aufgewachsen, das sind nicht bloß Söhne der von sozialen Umständen geschaffenen alleinerziehenden Mütter, das sind Hurensöhne von Schlampen, die durch Zu- und Unfall zu Müttern wurden.

Das Tellurische II: Die Familie

 

 

 

 

Wenn Homosexualität als widernatürlich bezeichnet wird und Geburtenkontrolle als Sünde betrachtet wird, haben wir es nicht mit der natürlichen Ordnung, sondern mit einem soziokulturellen tellurischen Konstrukt, der Familie, zu tun. Die Ablehnung der Homosexualität bis zur Angst davor, der Homophobie, ist ein Minderwertigkeitskomplex des Tellurischen gegenüber dem Lunaren, in dem sich die natürliche Bisexualität des Menschen voll entfaltet. Die konservative Abtreibungspolitik ist aber bloße Heuchelei, denn Geburtenkontrolle gehört traditionell zur Familienplanung.

Das Tellurische präsentiert ostentativ den Anschein der natürlichen Ordnung; der tellurische Familienmensch will zwar nicht mit dem Tier gleichgesetzt werden, will aber dennoch, dass seine Lebensart, seine Ansichten und Entscheidungen als von der Natur bestimmt, und deshalb alternativlos, akzeptiert werden. Im postjungianischen Raster MBTI ist das bewahrende SJ-Temperament die für den Tellurismus prädestinierte Charakterstruktur. "So soll es sein, weil es schon immer so war", ist ein mythischer Glaubenssatz des Telluriusmus: das Goldene Zeitalter vor dem Beginn der Zeit ist ein Gedankenkonstrukt.

Gedankenkonstrukte im Tellurismus begründen abartige Tradition, wie das Füßeabbinden im alten China oder die Genitalverstümmelung im neuen Afrika. Dabei geht es um Macht und Kontrolle. Auch die Jungenbeschneidung hat keinen anderen Zweck und soll dem Jungen sagen: "Dein Penis gehört nicht dir, sondern der Gattung!" Die Gattung, personifiziert durch das Mütterlich-Weibliche, steht im Mittelpunkt der tellurischen Weltanschauung. Noch vor wenigen Generationen waren die meisten Menschen überall auf der Welt Bauern. Das konservative Mindset von Heute bezieht sich auf die Lebenswelt von Damals, die es in den Ländern des Fortschritts nicht mehr gibt: hier sind selbst Bauern zu Agrarunternehmern geworden.

Keineswegs sträubt sich die tellurische Ordnung gegen titanische Errungenschaften: sie vereinnahmt sie und hält sie wenige Minuten später für naturgegeben. Den Konservativen in den USA ist ihr Recht auf Schusswaffenbesitz so heilig, als hätte Gott Adam mit einer AK-47 erschaffen. Die Atomkraft, ein Gipfel des titanischen Machtwahns, wird für selbstverständlich gehalten. Der Pragmatismus gegenüber dem Titanischen ist im Tellurischen allgegenwärtig, doch wie steht der tellurische Mensch zum chthonischen Ursprung seiner titanischen Prothesen?

Das Chthonische wird euphemisiert. Dem Schrecken wird durch Wegsehen und Verniedlichen der Schrecken genommen. In der tellurischen Ordnung wird alles, was nicht zur tellurischen Ordnung gehört, als ein integraler Bestandteil der tellurischen Ordnung betrachtet. Die lunaren und solaren Menschen haben alle Mütter, und die Mutter sieht im weltberühmten Künstler oder im mächtigen Feldherrn das hilflose kleine Kind. Der Mann ist in der tellurischen Ordnung gegenüber der Frau grundsätzlich nur der Sohn. Das Tellurische ist gynozentrisch; im Tellurismus erscheint der Gynozentrismus als naturgegeben. 

Das Tellurische I: Demeter

 

 

 

 

Das mütterlich Weibliche, das Tellurische. Die gute Mutter, die Göttin der Agrarvölker. Ja, sie ist entsetzt, dass ihre Tochter Persephone den Gott des dunklen Jenseits, Hades, tatsächlich liebt, und freiwillig in seine Welt geht. Die Mutter versteht alle, hat für alles Verständnis. Was sie nicht versteht, ist ein INTJ, doch das ist der Traumtyp der wohlgeratenen Tochter, das ist der Terminator (T800 in T1 und T2 ist ein INTJ, wenn man ihn als menschlichen Charakter betrachtet).

Die Mutter ist nicht die Ehefrau der Vaters: Zeus (ESTJ) ist mit Hera (ISTJ) verheiratet. Hera ist die berufstätige Mutter, die Herrscherin, nicht die Hüterin. Demeter, die tellurische Mutter, ist die ruhige Mitte zwischen der celestischen Mutter Hera und der chthonischen Mutter Kybele. Das Volk der Demeter schöpft aus der fürsorglichen Mutter unerschöpfliche Kraft. Darum ist Russland nicht so leicht zu besiegen.

Alles ist gut, doch irgendwas ist nicht gut, so das unterbewusste russische Empfinden. Das Seiende ist dynamisch, alles fließt, Stabilität kann nicht das Ende sein. Deshalb ist das russische Nationalgefühl die unübersetzbare "toská", das sich regende Lunare strebt auf, will das Mutterhaus verlassen und auf eigenen Beinen stehen. Davon erzählt das Lied "Shiroká reká" der russischen Pop-Demeter Nadeschda Kadyschewa.

Dienstag, 9. August 2022

Das Chthonische IV: Kybele

 

 

 

 

Es gibt die Mutter und die Dirne, so Otto Weininger. Es gibt die Mutter und die Hure, so Nawalt Migtowsky. Es gibt die Mutte und die Nutter, so... oder so: das Chthonisch-Weibliche steht unter keinem geistigen oder seelischen Prinzip mehr, sondern unter dem materiellen Prinzip der Vagina. Der Gynozentrismus jeder menschlichen Kultur ist tellurisch, chthonisch ist der Vaginozentrismus: hier geht es nicht mehr um die Frau als Frau, die Frau als Mutter, die Frau als Bewahrerin der Gattung.

Kybele, auch bekannt als Rhea, hatte viele Kinder: Zeus, Poseidon, Hades, Demeter, Hera und Hestia. Sie hatte sie mit dem Titanen Kronos gezeugt, dem Herrn der Zeit. Dieser kam zur Herrschaft über die Welt, indem er Uranos, den ewigen Himmel, entmannte. Die Tengrianer sehen es übrigens nicht so: nach ihrer Ansicht ist bei Uranos noch alles beisammen. Zeus wurde zum Gott dieser Welt, Hades zum Gott der Unterwelt, Poseidon zum Herrn der Meere, die für die alten Griechen eine Sonderwelt zwischen dem Dies- und dem Jenseits waren.

Hera herrscht nach außen in der gynozentrischen Kultur der Menschen, Hestia nach innen. Demeter ist die Mutter als Mutter, das tellurische Prinzip. Feministisch gewendet, ist die weltimmanente Demeter der Gott dieser Welt, Gottmutter, die transzendente Hera die Göttin des Jenseits, und Hestia die Göttin der Zwischenwelt. Das mütterlich-weibliche Prinzip ist aufgeteilt und bedarf keiner Sondermutter. Das sieht Kybele anders.

Es gab schon in der Antike Kulte, die nur Kybele verehrten. Diese nahmen zu den Zeiten der Dekadenz zu. Kybele ist die Mutter schlechthin, mehr Mutter als Frau, mehr Mutter als Göttin, einfach die entfesselte Mutterschaft, und somit ganz die Tochter ihrer Mutter Gaia. Die materielle Mutter, unter keinem geistigen Prinzip stehend, gebiert Ungeheuer. Die Vagina ist das Tor zur Hölle. Und dieses Tor ist beiderseitig begehbar.

Die Sehnsucht der Dirne nach dem Verbrecher wird bei Otto Weininger nicht in ihrer ganzen Tiefe diskutiert. Das selbstsüchtige Weib, das den Koitus als Selbstzweck, und nicht zum Zweck der Mutterschaft, anstrebt, will nicht den vernünftigen Mann, sondern das lüsterne Männchen. In der Ultradekadenz gilt als männliches Ideal der phallische Mann, die niedrigste Form der Männlichkeit. Noch weiter unten steht das Tier.

Und hier wird es erst interessant: Will Jane Porter wirklich den Menschen Tarzan, oder steht der Affenmensch nur stellvertretend für den Menschenaffen? Das Tier, der Werwolf, der Vampir, das Monster: kein Rapper, kein Dealer, kein Gangster ist nur annähernd so sexy. Und letztlich sehnt sich doch die ultradekadente chthonische Frau nach Sex mit lovecraftschen Gestalten: im totalen Krieg der Materie gegen die Form wird der Ekel zum Orgasmus.

Das Problem ist nur: der Körper der chthonischen Frau ist ein menschlicher Körper, entstanden nicht in der Formlosigkeit der bloßen Materie, sondern nach einem geistigen Prinzip. Die Form wird in der Gestalt des schönen weiblichen Körpers als Geisel genommen, und der die Schönheit liebende Betrachter jeder Kulturmensch im Grunde durch die Vergewaltigung des wohlgeformten weiblichen Körpers durch das Form-Minderwertige oder Formlose gefoltert. Diese Folter des Zuschauers (bzw. des davon Wissenden oder Ahnenden) macht den chthonischen Orgasmus aus.

Montag, 8. August 2022

Das Chthonische III: Das Titanische

 

 

 

 

Die olympischen Götter haben die Titanen in einen Bereich verbannt, der sich noch unter der monotheistischen Hölle befindet. Der Logos gewann gegen das Chaos im Kampf um die Natur.

Die Macht der Menschen über die Natur kommt aber von den Titanen. Prometheus überlistete selbst Göttervater Zeus. Die Menschen verdanken ihren technologischen Fortschritt dunklen Kräften. Wissenschaft und Magie entspringen derselben Quelle. Deshalb ist alles Titanische – vom Verbrennungsmotor und Atomkraftwerk bis zu Ibuprofen und den Impfstoffen – mit Vorsicht zu genießen.

Prometheus steht für den titanischen Logos. Das Projekt Atlantropa von Herman Sörgel folgte der titanischen Logik. Die Wolkenkratzer in Shanghai und Dubai sind titanische Logistik. Das Bodybuilding im Fitness-Studio mit halbkünstlichen Nahrungszusätzen ist titanisches Logem.

In Maßen ist das Titanische einhegbar und beherrschbar. Das Empire State Building passt harmonisch ins Stadtpanorama von New York. Aber spaßt nicht mit dieser Stadt: New York ist nichts anderes als The City in the Sea von Edgar Allan Poe. Die Stadt steht, wie die USA, Chimäre aus Neo-Byzanz und Neuvenedig (bzw. Neo-Neo-Karthago), auf titanischem Grund. Den dunklen Ahnungen Poes im Zeitalter der Romantik folgte die explizite Darstellung Lovecrafts im Zeitalter der Psychoanalyse: unsere moderne Welt ist auf etwas gebaut, das gar nicht sein soll (das Urböse).

Nach Peter Sloterdijk geschah im 20. Jahrhundert Folgendes: jeder von uns bekam das Äquivalent von mehreren Dutzend Sklaven. Wir haben die fossilen Brennstoffe nutzbar gemacht und damit so viel Energie generieren können, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Das Titanische ist ubiquitär. Der Sieg der Olympier war nicht von Dauer. Doch als Mittel, welches wir durch unsere Vernunft verantwortungsvoll beherrschen, wie das Feuer, das in den Öfen brennt und die Häuser warm hält, ohne sie zu verbrennen, hat es einen berechtigten Platz in der menschlichen Kultur. Wird aber das Titanische zum Selbstzweck, zerstören wir die Natur – sowohl um uns herum als auch unsere eigene. Der Transhumanismus bedeutet, dass wir dann keine Menschen mehr sind. Wollen wir jedoch Menschen bleiben, müssen wir mit den titanischen Kräften konservativ umgehen.

Das Chthonische II: Formlosigkeit

 

 

 

 

Je höher das Lebewesen, umso klarer die Form. Damit steigt auch der Grad der Schönheit. Säugetiere sind am Schönsten, allerlei Formloses im Tierreich löst Ekel aus. Das kontradiktorische Gegenteil des Schönen ist das Ekelhafte, nicht das Hässliche. So gibt es das eine oder andere hässliche Reptil, das durch seine bizarre Form begeistert. Der Wurm, der Darmparasit, der Schleimpilz sind nur eklig.

Die Phantasie muss beim real Existierenden nicht aufhören, und so haben die Buddhisten ihre Hungergeister und Höllenwesen und wir unseren geschätzten H. P. Lovecraft. Seine und von ihm beeinflusste Phantasiewesen treiben das Grauen der Formlosigkeit auf die Spitze: lebende tote Masse, strukturlos wächst alles von überall; Fleisch, Schleim, Tentakel. Das Ding aus einer anderen Welt (1982) vollendet das Prinzip des Formlosen, das horribelstenfalls jede Form annehmen kann.

Aus der Sicht der neuplatonischen Emanationslehre oder der dharmischen Weltanschauung befindet sich der formlose Bereich karmisch so weit unten, dass ihm das Annehmen fester Formen nicht möglich ist. Und so entstehen Monstrositäten, die sich gewaltsam in Dreck und in Totem materialisieren.

Materie ohne Form ist im ästhetischen, nicht physikalischen Sinne, degenerierte Materie, wobei das Prinzip gleich ist: beliebige Dichte und Schwere. So atmen die unterirdischen Wesenheiten den Erdmantel wie wir die Luft. Sie sind so schrecklich, dass sogar am Hintereingang der Hölle noch Wachen stehen, die die Verdammten in der Hölle vor den chthonischen Monstern schützen. Was lockt den Menschen am Chthonischen? Träger welche Karma-Zustände werden von Cthulhu heim ins Reich geholt?

Das Chthonische I: Wahnsinn

 

 

 

 

Die Seele stirbt nach dem Tod nicht, davon geht Schopenhauer, obgleich Atheist, mit Selbstverständlichkeit aus. Aber wir verlieren nach dem Tod den individuellen Verstand, und ohne diesen haben wir Angst im Dunkeln.

Das Selbst ist unergründlich tief, der ungeschaffene Teil der Seele, das Göttliche im Menschen. Das Ego ist die Summe der Kränkungen, Ressentiments und psychischen Störungen, die sich im Laufe eines Menschenlebens aufsummieren. Das Ich ist der rationale Verstand, das Bewusstsein, von dem die Philosophie des Geistes spricht. Das Selbst ist pures Subjekt, überbewusst, und somit nicht selbst Bewusstsein. Das Ego ist pures Objekt, das, "was das Leben mit uns macht", unterbewusst, und somit auch unbewusst. Erst im Ich werden auch diese Teile der Persönlichkeit ihrer Selbst bewusst, denn das Ich ist Bewusstsein. Und das Bewusstsein des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein (Hegel).

Das absolute Wissen der Phänomenologie des Geistes ist der Flow-Zustand des individuellen Bewusstseins, seine weltimmanente Transzendenz in den Geist der Kultur, dem es angehört. Mit dem Tod verlässt auch der größte Philosoph die Sphäre des Geistes, und geht, ob im kurzen Sterbeprozess oder in langer Demenz, zurück zur wertenden und urteilenden Vernunft, dann zum egozentrischen Selbstbewusstsein, dann zum wahrnehmenden Bewusstsein, verliert Kraft und Verstand, findet sich bei der widersprüchlichen Wahrnehmung und nuckelt wenige Sekunden oder eine ganze Weile an der Titte der sinnlichen Gewissheit.

Im Film "Die Mächte des Wahnsinns" (1994) zeigt John Carpenter, dass Verstand nicht selbstverständlich ist. Auch mitten im Leben kann er einen Menschen verlassen. Vertraust du dann deinen Sinnen? Deiner Logik? Was ist Vernunft ohne Verstand? Worauf beziehen sich Kategorien, wenn die Empirie sich an keine Gesetze mehr hält? Je mehr man darüber nachdenkt, umso mehr Angst bekommt man: nicht vor den im Diesseits möglichen Qualen und den Höllenstrafen im Jenseits, sondern vor dem kosmischen Horror, der noch eine Ebene tiefer liegt, vor dem, was eigentlich gar nicht sein soll.