Dienstag, 12. Juni 2018

Die Reinheit des Guten





Die edelste und zugleich aussichtsloseste Veranstaltung ist es, ein moralisch guter Mensch sein zu wollen. In der ersten Vorrede zu seiner Religionsschrift von 1793 sagt Kant: "Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten". Was moralisch ist, versteht sich von selbst: handle so, dass die Maxime deines Willens ein allgemeines Gesetz werden könnte, - legt Kant der Metaphysik der Sitten grund. Das Gute ist zu tun, weil es gut ist, und aus keinem anderen Grund.

Das Gute ist zu tun, und auf Glückseligkeit ist zu hoffen. Das erhoffte Paradies darf nicht der Grund dazu sein, moralisch zu handeln, aber Letzteres macht einen Menschen würdig, in dieses Paradies einzutreten. In der Theorie schon. In der Praxis gibt es ein durchaus ernstzunehmendes Problem: "Wie es auch mit der Annehmung einer guten Gesinnung an ihm zugegangen sein mag und sogar, wie beharrlich er auch darin in einem ihr gemäßen Lebenswandel fortfahre, so fing er doch vom Bösen an, und diese Verschuldung ist ihm nie auszulöschen möglich", spricht Kant vom Menschen in der  Religionsschrift. Das Böse, das Kant meint, ist die Unterwerfung des moralischen Gesetzes unter selbstsüchtige Grundsätze, und die geläufigste Perversion dieser Art ist das gute Handeln zum Zwecke der Glückseligkeit: wäre die Letztere auf unmoralischem Wege schneller zu erreichen, würde ein solcher Mensch sofort diesen Weg einschlagen.

Wir fingen vom Bösen an, - was bedeutet das konkret? Es bedeutet eine unbezahlbare Schuld, einen unvertilgbaren Makel im tiefsten Innern jeder menschlichen Seele. Aber fingen denn alle vom Bösen an? Was bringt Kant zu der Annahme, dies sei der Fall, - nicht etwa die haarsträubend ungerechte biblische Lehre von der Erbsünde? Aus demselben Buche zaubert Kant auch eine Lösung hervor: Gott vergibt dem, der sich aufrichtig bemüht, ein guter Mensch zu werden; wer sich vom Bösen zum Guten wendet, wird durch Gnade der Glückseligkeit würdig. Doch Gnade war mir schon immer suspekt.

Man stelle sich seinen Traummenschen in partnerschaftlicher Hinsicht vor. Ein Weltenschöpfer schafft für dich deine Traumfrau gleich in doppelter Ausführung. Die beiden Frauen sind absolut identisch, aber eine von ihnen ist gleich nach dem Erschaffenwerden unglücklich gefallen und brach sich einige Knochen. Der Demiurg heilte sie sofort mit seinen Zauberkräften: vor dir stehen zwei völlig identische Frauen. Eine nimmst du mit in dein Leben, die andere nimmt der Demiurg zurück ins Nichts. Welche nimmst du mit? Dir stehen zwei identische Männer zur Auswahl. Beide warteten ein Jahr lang in Luxusgemächern auf dich. Der eine hatte sich aus Langeweile überfressen, wurde aber vom Demiurgen restlos von seiner Adipositas geheilt, der andere war immer gesund. Wer ist dein Traumtyp?

Hände, die ins Klo griffen, werden nach dem Waschen sauber, aber nicht mehr rein. Gesichter, die einmal alterten, werden diesen Makel ins Jenseits mitnehmen, wo alle wieder jung und schön sein werden. Was gewesen ist, ist gewesen, - einerseits vergangen, andererseits nie mehr rückgängig zu machen. Eine restlos verheilte Wunde ist etwas anderes, als gar keine Wunde. Was im Dreck begann, wird nie zur Reinheit gelangen. Es wird nie wieder gut: gut und wieder schließen sich aus. So kann ich mich bei bestem Glauben und höchster Anstrengung des guten Willens, das moralische Gesetz als Selbstzweck zu befolgen, niemals als würdig empfinden, Gottes reines Angesicht zu schauen. In eine dunkle Eiswüste will ich gelangen, allen Dreck auswaschen, alles Elende an mir ausrotten. Das Wissen darum, dass sich über mir - unerreichbar für mich und andere gründlich gewaschene Dreckiggewesene - ein Paradies mit perfekten Wesen befindet, denen kein Haar gekrümmt, kein Brechlied gesungen, kein Ekel gezeigt, kein Stück Haut verunreinigt wurde, wäre mir bereits Paradies genug, und selbstredend das Höchste, dessen ich würdig bin.