Mittwoch, 23. September 2020

Aufklärung

 

 

  

Auf die neue Heiterkeit des Barock folgte eine neue Naivität: man vergleiche nur die politische Philosophie des düsteren Kenners der human nature und conditio humana Thomas Hobbes mit der des geistigen Vaters des American way of life John Locke. Hobbes Leviathan setzte den Schlusspunkt unter die Horrorzeit der Reformation, Lockes bibelbasierte Anspruchshaltung bezüglich irgendwelcher Bullshit-Rechte und irgendeiner vom Schöpfer persönlich garantierten ursprünglichen Gleichheit zeigte die Gedankenlosigkeit des politiktheoretischen Neuanfangs. Diese Naivität trieb ein Menschenleben später Rousseau auf die Stufe des vollkommenen Wahnsinns, indem er von phantasmagorischen Default-Zuständen in der Politik ausging: alles gehörte irgendwie allen und alle waren irgendwie glücklich, doch der Egoismus führte dazu, dass der edle Wilde das Paradies verlassen und den Staat gründen musste. Auf kindliche Legitimationen von Gesellschaft und Staat folgten kindische Behauptungen über den vermeintlich natürlichen bzw. künstlichen Zustand der Menschheit.

Aus der Entdeckung der Natur wurde ihre Entzauberung. Dies führte zum Nihilismus, der auch den Menschen schließlich zur Maschine erklärte (La Mettrie). Auf der Weltbühne der politischen Öffentlichkeit führte Voltaire die Figur des Dissidenten ein: Protest als Pose anstatt eines Kampfes um Veränderungen und Reformen. Die Aufklärung war eine zweite negative Phase der Neuzeit, aber keine zweite Reformation. Perestroika war nicht en vogue, Zerstörung war cooler als Umbau. Der französische Kant-Darsteller Robespierre inszenierte mit der Französischen Revolution die erste große Show der Gesellschaft des Spektakels, der echte, kontemplative, nicht aktive Kant, war begeistert. Die politische Philosophie des Deutschen Idealismus war vom Fortschrittsparadigma der neuzeitlichen Naturwissenschaften infiziert und sah in der Zerstörung der alten Ordnung den Weg zum evolutionär vorherbestimmten Idealzustand.

Mit den politischen Schlagworten Freiheit, Gleichheit und Stabilität (oder war das Fraternität?) kündigten sich in der Aufklärung die drei politischen Ideologien der Moderne an: Liberalismus, Sozialismus, Faschismus. Das 19. Jahrhundert versöhnte sie in der bürgerlichen Gesellschaft unter dem Prinzip des Nationalismus: politisch Faschismus, wirtschaftlich Liberalismus, kulturell Sozialismus, Tendenzen, in der Biedermeierzeit zart angedeutet, zum Jahrhundertende bis zum Zerreißen des Behagens in der Kultur realisiert.

Sonntag, 20. September 2020

7. Die ungarische Fahrradkette



Wer waren nochmal diese Venger? Waren es nicht die, die die ehrfuchtgebietendeste Stadt der Welt, das weltentranszendierende Reburt, gegründet, und für Jahrhunderte Europa dominiert haben? Steinbrück. Unter Matthias Hunyadi Mitte-Ende des 15. Jahrhunderts waren sie, auch, eine europäische Großmacht. Und wo ist das große Vengria mit, Angst macht große Augen, seiner 20-Millionen-Armee? Steinbrück. Ungarn, nicht Vengria. Was war ich für ein phantasievolles Kind.

Immerhin kamen diese Nomaden, Magyaren oder Madjaren, im 9. Jahrhundert als Geißel sesshafter Völker nach Ostmitteleuropa. Zeitgenossen der schrecklichen Vikinger, waren sie Vikinger des Landes, nicht des Meeres. Die sächsischen Ottonen brachten sie schließlich unter ihre Knute, und die furchtbaren Neuankömmlinge settelten down und wurden fruchtbar. Polen schenkte Europa kein großes Polen, aber viele große Polen. Und so war es auch mit Ungarn, nur dass es halt Ungarn waren. Hier Chopin, dort Liszt. Der große Atmosphäriker des modernen Kinos, Darabont Ferenc, hat ungarische Vorfahren.

In Union mit dem zweiten Sportskanonenvolk der Gegenwart, den Kroaten, überstanden die Ungarn als subalternes Königreich Mittelalter und Renaissance. Bei Mohács 1526 kam das Ende ihrer Herrlichkeit. Seitdem ist nicht mehr viel los, außer dass die Finno-Ugrier (wie ihre finnischen Verwandten auch) die meisten olympischen Medaillen pro Einwohner gesammelt haben. Aber vielleicht ist in Budapest was los, dort sollen angeblich die Frauen durchaus schön sein.

 

Freitag, 18. September 2020

Psychopolitische Phasen der Neuzeit

 

 

Renaissance 1340-1525 Positive Gründungsphase der humanistischen Hochkultur

Reformation 1485-1648 Erste negative Phase: religiöser Fundamentalismus als lebensverneinende psychopolitische Bewegung

Barock 1580-1750 Cartesianische Rückbesinnung auf das Subjekt, individualistischer Liberalismus, Empirismus/Rationalismus

Aufklärung 1690-1850 Szientistischer Materialismus; lebensverneindene Weltdekonstruktion durch Naturwissenschaft

Bürgerliches Zeitalter 1815-1968 Hedonistische Moderne: Ernte der Frucht des wissenschaftlichen Fortschritts

Antihumanismus seit 1914 Dritte und letzte Negationsphase; totale Lebensverneinung im Willen zum Nichts



Phase I Kindlich, unmittelbare Affirmation/Negation

Phase II Logisch vermittelt, "wissenschaftlich"

Phase III Nihilistisch-postlogisch, fatalistisch

 

Drei Negationsphasen, drei dreißigjährige Kriege

 

 

 

Der Hundertjährige Krieg war ein Krieg der Renaissance. Die negationistische Gegenbewegung, die Reformation, mündete in einem viel schrecklicheren Krieg, der aufgrund der apokalyptisch wahrgenommenen Türkengefahr verschoben werden musste. Karl V hätte ihn sicherlich geführt, der katholische Fundamentalist Philipp II noch gerner, doch Süleyman der Magnifiziente hätte das sich totalbekriegende "Lateineuropa" (Bernd Roeck) mit Sicherheit erobert. Nach dem erschöpfenden Dreißigjährigen Krieg standen die Türken wieder von Wien. Das Resultat war dann doch nicht so dramatisch. More was lost at Mohács.

Jede Negationsbewegung sammelt einen Frustrationsstau, der sich entladen muss. Der totale Krieg enlädt die Spannung und erlöst den weltverneinenden Geist in das Du Darfst der Weltbejahung. Die Kabinettskriege des Barock waren im Vergleich zum nullten Weltkrieg Europas Ritterturniere. Die nihilistische Aufklärung endete mit den Napoleonischen Kriegen; Europa war im 18. Jahrhundert aber schon Herr der Welt, deshalb musste der Siebenjährige Krieg nicht warten. Der lange Frieden des 19. Jahrhunderts entsprang dem mediokritären Hedonismus des bürgerlichen Zeitalters. 

1914 passierte etwas Ungewöhnliches: der größte Krieg der bisdahinnigen Geschichte entlud die angestauten Negationskräfte nicht am Ende, sondern gleich zu Beginn der nächsten negativen Phase. Und 20 Jahre nach seinem Ende ein weiterer, noch größerer Krieg. Und keine 20 Jahre später fast ein Atomkrieg. Die dritte und letzte Negationsphase entlud wohl die Widersprüche nicht nur des bürgerlichen Zeitalters, sondern der ganzen europäischen Neuzeit.

Dienstag, 15. September 2020

Das negative Ich

 

 

  

Dass das Ich begrifflich betrachtet „einfache Negation“ ist, erschließt sich auf dem Höhepunkt der abendländischen Philosophie dem deutschen Idealisten Hegel. In der Frührenaissance beginnt das humanistische Ich seine Reise als lebensbejahendes aktives, aggressives, kreatives und nach Ruhm, Geld und Macht strebendes Subjekt. Doch wer das Leben bejaht, kann sich selbst im Leben verlieren. Und hier kommt Savonarola ins Spiel.

„Simplify your life“ ist nicht der Punkt: natürlich forderten schon der heilige Franziskus und viele große Mönche und Eremiten Jahrhunderte vor ihm, dass wir zur gottgefälligen Einfachheit zurückkehren. Das war bloß Ethik. Hier geht es um eine existentielle Frage. Egal, wie groß, reich und mächtig ich bin, ich bin sterblich. Da ich das Zentrum meiner Welt bin, ist mein Ende der Weltuntergang. Verabsolutiere ich mein Ich, wird für ebenmich mein Leben sinnlos. Das ist die Dialektik der Ich-Religion.

Um das Ich in die Transzendenz zu retten, muss ich das Leben negieren. Weltflucht, Lebensfeindlichkeit, Züchtigung des Fleisches: in der Hauptstadt der Renaissance predigte der erste negative Nihilist der Geschichte genau das. Um mein Ich vor der Sterblichkeit zu retten, muss ich das Sterbliche an ihm töten. Historisch ist Savonarola, nicht Jan Hus oder John Wyclif, der erste Reformator. Eng gesehen, geht es der Reformation um eine Reform der Kirche bzw. des christlichen Glaubens. Doch im Zeitalter des Humanismus ist der Staat die Kirche und der Glaube ist nicht christlich.

Auf die lebensbejahende Renaissance folgte die lebensverneinende Reformation, gefolgt vom lebensbejahenden Barock und der lebensverneinenden Aufklärung. Am Ende einer Verneinungsbewegung sind die mentalen Kräfte erschöpft, man nimmt wieder die Vergänglichkeit im Kauf, wenn man dafür ein paar schöne Tage genießen kann. Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Die Romantik ist als wiederverzaubernde Gegenbewegung der entlarvenden Aufklärung der Beginn des bürgerlichen Zeitalters, das Unbehangen in welchem sich im europäischen Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts entlädt.

Die Vollendung fand der negative Nihilismus bei Emil Cioran. Der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts zeigte die Unmöglichkeit weiterer Affirmation und ebenso die Sinnlosigkeit abermaliger Negation. In ironischer Bejahung begrüßte er den Beginn der Nazizeit von Transsylvanien aus, über die begeisterte Affirmation der Machtergreifung durch Heidegger konnte er nur schmunzeln. Der Faschismus war die letzte große Negationsbewegung. Was danach folgte, war posthumane Affirmation: der Wille zum Nichts.