Montag, 13. März 2023

Weitere Anmerkungen

 

 

 

 

Zusatz I: Nietzsche für Missratene

 Der Missratene wird sich entweder nicht als missraten fühlen (Lebenslüge) oder von sich wegsehen auf noch schlechter Weggekommene: Behinderte, Kranke, aber auch bestimmte Minderheiten, auf die das grobe Volksmaul gern Inkompetenz und Verachtungswürdigkeit projiziert.

Die Nietzsche-Lektüre ist für Schlechtweggekommene gefährlich: sie nährt nur ihr Ressentiment, ohne zur läuternden Krisis zu führen, die der Weg des durch Schicksal Missratenen zum durch die Kraft des Willens Wohlgeratenen sein könnte. Manche Philosophen sind nichts für schwachen Nerven, Nietzsche ist nichts für schwache Willen.


Zusatz II: Selbstmitleid

 Der Wohlgeratene hat Selbstzweifel, an denen er wächst, der Missratene hat Selbstmitleid, in dem er sich gemütlich einrichtet. Zweifelt ein intelligenter und sensibler wohlgeratener Jugendlicher an sich selbst, so kommt es schonmal vor, dass missratene Erwachsene von sich selbst auf andere schließen, und dem Jugendlichen Selbstmitleid vorwerfen.

Wohlgeratensein ist nicht ein Mangel an Intelligenz oder Fehlen von Sensibilität; zum Vortrefflichsein sind Intelligenz und Sensibilität zwingend erforderlich. Dumpf und debil, aber stark und selbstsicher bedeutet ein Wohlgeratensein nur im instrumentellen Sinne: ein nützliches Werkzeug für jeden manipulativen Mann und für fast alle Frauen.

Der Missratene ändert sich nicht in der Folge seiner Selbstzweifel, er suhlt sich in Selbsthass und empfindet sein Zukurzgekommensein fatalistisch. Dies führt zum Selbstmitleid, das so lange anhält, bis sich jemand endlich des Missratenen erbarmt. Das "Verständnis" für seine "Situation" nutzt der Missratene, um seine Untätigkeit zu rechtfertigen.

So wie der Missratene niemals dem Mut zum Freitod hätte, hat er auch keinen Mut, sein Leben zu leben. Darum ist er in seinem eigenen Leben kein Subjekt, sondern ein Objekt: das Leben passiert ihm nur. Weil er keine Entscheidungen trifft, ist er auch nie selber für etwas verantwortlich: die Anderen sind folglich an seinem Schlechtweggekommensein schuld.


Zusatz III: Recht auf Suizid

 Der Wohlgeratene besteht auf seinem Recht, über sein Leben frei zu verfügen. Deshalb bestreiten die Missratenen sein Recht auf Suizid, wobei es nie logische, manchmal moralische und oft emotional-manipulative Argumente (Beschämungen, Schuldgefühlmacherei) gibt. Der Bessere soll sich, würden sie sagen, wenn sie ehrlich wären, dem Elend um ihn herum ja nicht entziehen dürfen!

Der Missratene spricht nie über ein Recht auf Freitod, denn ein solches will er gar nicht haben. Im Gegenteil: er rechtfertigt seine Feigheit, es nicht zu tun, oft mit dem Argument, er dürfe es gar nicht. Sonst würde er ja... Aber nein, wird er nicht: er will bloß Aufmerksamkeit, bloß Mitleid, Verständnis, ein offenes Ohr, dass Mama oder Ersatzmama ihn wieder lieb hat. Kurz: er ist das Elend, dem sich andere Menschen ja nicht entziehen dürfen!


Zusatz IV: Lebensfeindlichkeit

 Du bist frei, lächelt dich der Vortreffliche an, nimm dir so viel Leben, wie du leben kannst! Aber du zögerst: mit der Freiheit hast du auch die Verantwortung. Schließlich begehst du einen covert contract mit dem Leben: du schreckst einerseits ängstlich davor zurück, es wirklich zu leben, und bindest dich andererseits an das Leben, indem du dir verbietest, es durch einen Freitod zu beenden (was logisch wäre, da du es ja nicht leben willst). Und nun schuldet dir das Leben etwas: ein besseres Karma, weil du keinen Suizid begehst, und es schuldet dir natürlich auch Mitmenschen, die immer für dich da sind, und dir gegenüber verpflichtet sind, sich auch in ihrem Leben an dein Suizidverbot zu halten. – Wenn du dieser Mensch bist, dann bist du so lebensfeindlich, wie ein Mensch überhaupt nur sein kann.

Leben bedeutet für den Wohlgeratenen hohes Leben – nicht als Anspruch, aber als Ideal. Lebensbejahung bedeutet zugleich, im Leben nach Vortrefflichkeit zu streben. Und Lebensbejahung bedeutet die bedingungslose Bejahung der Freiheit, die mit dem Leben einhergeht. Jeder verfügt auch frei über sein Lebensende: die Entscheidung, eines natürlichen Todes zu sterben, ist eine genauso freie und souveräne Entscheidung wie die Entscheidung für den Suizid (aus welchen Gründen auch immer dieser begangen wird). Wer den Freitod nicht wählt, fügt sich keineswegs in einen "natürlichen" Lauf der Dinge, – dieser existiert angesichts der Freiheit nicht, denn alles, was kein unmittelbarer Zwang ist, ist eine freie Entscheidung!

Für den Missratenen ist das Leben Zwang. Seine Lebensbejahung ist die Bejahung seines gekränkten Ego im Trotz gegen das Leben, gegen seine Unwägbarkeiten, das mit dem Leben einhergehende Leid, auch gegen die Ungewissheit, die Freiheit und die damit einhergehende Verantwortung für sich selbst.

Der Missratene will das Leben zu einem Gefängnis für sich und andere machen. Für diesen bedeutet die Missachtung seiner Ansprüche auf das Leben anderer Lebensverneinung; Lebensbejahung bezieht sich für ihn auf das elende, armselige Leben: es ist falsch, einen Verteidigungskrieg zu kämpfen, wenn die Alternative die Unterjochung deines Landes unter einen Tyrannen ist, der dich ja am Leben lässt, also schließlich "im Recht", weil "lebensbejahend" ist. Ja, ausgerechnet die Missratenen wollen Gott spielen!


Zusatz V: Zeloten der Vortrefflichkeit


 Gewarnt sei vor Zeloten der Vortrefflichkeit, wie eurem bescheidenen Diener, denn meine Wenigkeit wurde als Wohlgeratener unter Missratenen sozialisiert und schießt mit der Verachtung für Missratene über jedes vernünftige Ziel hinaus. Ein artgerecht sozialisierter Wohlgeratener würde allerdings niemals mit existentiellem Ernst philosophieren. Die Welt braucht Wohlgeratene, die Unrecht litten, die ins graue Gefängnis der Lebensfeindlichkeit geworden und ihrer Lebenskraft und Lebenslust systematisch beraubt wurden.

Wir sind keine Opfer, wir sind gute, nützliche Täter. Wir schätzen das Leben mehr, als Wohlgeratene, denen es zu selbstverständlich geworden ist, wir verteidigen die Freiheit kompromissloser, weil wir Unfreiheit erlebt haben, und wir kennen die andere Seite: die Dunkelheit des welt- und menschenhassenden Ressentiments, die Verstellung, die Verlogenheit, das armselige Elend, das sich selbst reproduzieren will, als hätte es ein eigenes Leben (ein Gegenleben, im Fall, dass es das materialisierte Böse selbst ist).

Und doch sei gewarnt vor unserem Eifer: der ist nicht für alle, nur für uns. Wenn wir unser Leben opfern, um Unschuldige zu retten, verpflichten wir andere nicht, es uns gleich zu tun: wir wollen Helden, Märtyrer, Krieger sein, und zwar aus Liebe, aus einer Liebe, die nur wir kennen, die der Sehnsucht des guten Herzens, das für lange Zeit in der Hölle (der anderen) war, entsprungen ist, und das Leben mit kindlicher Hingabe bedingungslos liebt. Es wird auch solche von uns geben, die ihre eigene Hölle für ihre einstigen Peiniger errichten werden, und es ist unsere – nicht eure – Aufgabe, uns täglich daran zu erinnern, dass wir im Kampf gegen das ästhetisch Böse selbst moralisch böse werden können.


Zusatz VI: Suizidgefahr

 So wie ein Bergsteigender oder Fliegender stets sturzgefährdet ist, ist ein hoch Lebender suizidgefährdet. Niemals suizidgefährdet ist nur ein niederes Leben, vergleichbar mit dem Regenwurm, der keine Fallhöhe hat. Ein Wohlgeratener ist oft genug suizidgefährdet, ein Vortrefflicher permanent, diesen Umstand gibt allein das scharfe Bewusstsein der Freiheit her.

Und wohlgemerkt: die Sturz-Metapher ist ein Vergleich, der dem Suizid, als einem unveräußerlichen Recht der Freiheit, schon Unrecht tut, weil er impliziert, dass der Freitod nur zu einem schlechteren Zustand führen könnte und außerdem den Sturz, Fall, bildlich als ein Scheitern darstellt.

Jeder, selbst der wohlbehütetste Wohlgeratene wird früher oder später mit unerwarteter Krankheit oder mit Alter und bevorstehendem Tod konfrontiert. Manche wirft das aus der Bahn und sie missraten, manche wirft das in eine neue Bahn, wie den vortrefflichen Prinzen Siddhartha, der zum Buddha wurde.

Glücklicher sind Vortreffliche, die die Suizidgefahr schon von Kindheit an kennen, die am Leid gewachsen sind, das aus Kohle Diamanten macht. Sie müssen nicht den Einbruch der Negativität in ihr wohlgeratenes Leben abwarten, ohne darauf vorbereitet zu sein: sie sind mit der Negativität aufgewachsen und an ihr gewachsen.

Es ist keine Leistung, keine gute Tat, kein Pluspunkt auf dem moralischen Schuldkonto, sich einen weiteren Tag nicht das Leben genommen zu haben. Es ist vielmehr ein intensiv erlebtes Glück, zu leben, obwohl der Freitod einem frei stand, und somit, zu leben, weil es das Leben selbst wert ist. Es gibt keine moralischen Gründe, den Freitod nicht zu wählen, es gibt nur ästhetische Gründe: eine neue Idee, die Schönheit eines Mädchens, der ewige blaue Himmel.


Zusatz VII: Missratene Weiber I

 Es ist dem Sexismus des Lesers überlassen, in der Unterscheidung der Wohlgeratenen und der Missratenen ausschließlich an Männer zu denken. Sexistisch ist aber schon der natürliche Instinkt, der sagt: die Frau ist schon, der Mann soll erst werden; die Frau hat ihren Wert von der Natur schon bekommen, der Mann muss sich erst beweisen.

Selbst wenn dem so: die Natur ist nicht perfekt. Es gibt hässliche Tiere, ja ganze Tierarten, die nur Abscheu und Ekel auslösen. Und wenn das Sollen, der Willensfreiheit, die Kultur auch zur weiblichen Existenz gehört, ist es umso verlogener, die Frau von dieser Unterscheidung auszuschließen.

Zunächst betrachten wir das narzisstisch missratene Weib, das seine Emotionalität verabsolutiert und über jedes logische und moralische Argument stellt. Es ist das Weib, das sich unreflektivert als Mittelpunkt der Welt betrachtet. Dieses Weib fühlt sich im Mutterrecht: nur weil es Leben austragen kann, fühlt es sich berechtigt, über alles Leben zu herrschen. Der Mann, das Kind und das Vieh sind da, um dem Weibe zu dienen, ja selbst die Kuh, deren Lebensleistung als Muttertier keineswegs geringer ist als die einer menschlichen Frau.

Das narzisstische Weib meint sich selbst nicht nur als Weib, sondern als das Weib: ICH, dieses Weib, bin das Zentrum des Universums, und alle haben mich gefälligst zu umkreisen! Das Ego ist aber ein Endliches, und die Verabsolutierung des Endlichen ist Hybris (im heutigen psychologisierenden Sprachgebrauch Narzissmus).



Zusatz VIII: Missratene Weiber II

 
Hässliche Weiber.

Es gibt viel an Deutschland auszusetzen, aber was einem wohlgeratenen Mann am schmerzvollsten auffällt, ist der Mangel an schönen Frauen. Deutschland wirkt womöglich vor allem deshalb selbst an den heitersten Orten grau und depressivistisch.

Das hässliche Weib ist das von Natur aus missratene Weib, und hat die sprichwörtliche Arschkarte, wenn es sich, wie das sexuell attraktive Weib, auf die Gaben der Natur verlassen und auf dem Mann parasitieren will. Diese Anspruchshaltung hängt ja nicht davon ab, ob eine Frau attraktiv ist: sie ist angeboren und beruht auf der Fähigkeit, Mutter werden zu können. Doch eine Heiratsprostituierte, die keiner will, ist selbst für die exakten Wissenschaften ein unlösbares Problem (und nein, auch die Spieltheorie kann dieses Problem nicht lösen).

Zurück zu den schönen Frauen. Frauen können schön sein – hässlich oder sexuell attraktiv sind Weiber. Es gibt die klassische schöne Frau, die von Natur aus Wohlgeratene, und zu ihr gibt es nichts weiter zu sagen. Es gibt aber auch die kulturschöne Frau, die wohlgeratene Emanze, die die zweitklassigen Gaben ihrer Natur mit geistiger Vortrefflichkeit ausgleicht. Sie stellt sich nicht als Sexualobjekt auf, ist keine Hure, benutzt ihre Sexualität nicht als Waffe, ist keine Nutte, vögelt nicht blöd herum, ist keine Schlampe. Ihr Leben dreht sich nicht um die Sexualität – die Sexualität ist nur ein Teil ihres Lebens.

Gerade die klassische, androgyne oder mannhafte Emanze kann in ihrer Selbstbestimmung und Würde schön sein, und wenn sie sexuell attraktiv ist, dann ist sie auch attraktiv, wenn sie Mutter ist, ist sie auch Mutter, – all das, womit die missratenen Weiber versuchen, Männer zu bestechen, zu erpressen, auszubeuten und zu beherrschen, sind Schwerter, die die ehrenwerte Emanze zu Pflugscharen umgewandelt hat. Sie hat den Mann als Versorger nicht nötig, sie hat das Kind als Geisel nicht nötig. Also nein: das missratene Weib ist nicht die Emanze.

Donnerstag, 9. März 2023

Das Ende (Der Übermensch)

 

 

 

 

Das Schreiben selbst entlarvt den Schreiberling als einen Missratenen, wenn es ein resignatives Schreiben ist: wenn er schreibt, anstatt zu leben. Lebendes Schreiben ist Vergnügen, weiter nichts, ernstestenfalls eine Übung, wie das Lesen. Wort und Schrift stehen überhaupt erst über Orgasmus und Sieg, weil der Geist nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Nur im Geist ist der Mensch göttlich, selbst im höchsten Leben ist er es nicht.

Der moralisch Wohlgeratene stellt fest: "Wenn es Gott nicht gibt, dann bin ich Gott". Damit bezieht er sich auf die Güte Gottes. Wenn es Gott aber nicht gibt, dann ist der moralisch vortrefflichste Mensch Gott im Sinne der Güte. So wird der Nihilismus moralisch widerlegt.

Durch selbstbestimmte Macht über das eigene Leben, die Autonomie der Persönlichkeit, kann der Mensch in dem Sinne Allmacht an sich reißen, als dass er sich keiner anderen Macht unterwirft. Die Macht, selbst seine Handlungsmaximen zu bestimmen, ist geistig-moralische Allmacht. Der kategorische Imperativ drückt seiner Form nach den Willen zur Macht aus.

Nur die Allwissenheit ist weder in der kleinsten Monade (denkendes menschliches Subjekt) noch in der unendlichen Monade (Gott/Universum/Dharma als allgemeines Subjekt) zu erreichen. Weltliche Macht kommt und geht, moralische Selbstbestimmung ist bloß defensiv: extravertierte und introvertierte Machtausübung scheitern an den Bedingungen ihrer Endlichkeit.

Der Wille zur Macht kann nur im Geistigen aufgrund der Unmöglichekit der Allwissenheit (eine Allwissenheit, die sich selbst als Allwissenheit weiß, ist mehr als sie selbst, womit die Allwissenheit nicht mehr Allwissenheit ist) unendlich fortschreiten. Nur hier, wo der vortrefflichste Wohlgeratene sich jeden Tag neu als Missratener betrachtet, und aus unversiegbarer Quelle des Willens unendlich streben kann, kann der Mensch nicht bloß (endlich) großer Mensch, sondern Übermensch werden.

Die Unmöglichkeit der Allwissenheit ist die Unsterblichkeit selbst: der Geist ist das Höchste und zugleich seine eigene ewige Transzendenz. Alles Selbstimmanente missrät, das ist sein Schicksal. Die Selbsttranszendenz ist der Weg zum Göttlichen. Das Ende des Lebens kann in der (narzisstisch-egobezogenen) Selbstimmanenz als alles der Sinnlosigkeit preisgebende Vernichtung oder aber in der übermenschlichen Selbsttranszendenz als Apotheose betrachtet (und erlebt) werden. Auch hier ist das Betrachten, das Geistige, primär, weil die Vorfreude von Dauer, während das Sterben ein kurzer (wenn auch glorreicher – sei es durch die heroischen Umstände oder die erhabene Haltung) Moment ist.

Dienstag, 7. März 2023

Das Mitgefühl

 

 

 

 

Eine Mitgefühlsethik – als ein Sollen – aufzustellen, ist schon der Nachweis, dass es das Mitgefühl, ohne dass es gesollt werden soll, nicht gibt. Schopenhauer ist schon Nietzsche bzw. Hobbes in Rousseaus Fell.

Der Wohlgeratene braucht das Mitgefühl nicht zu erlernen, er hat es schon: die heitere, von Hass und Ressentiment unbeschwerte menschliche Natur ist grundsätzlich empathisch. Erst wenn sich einer das Mitgefühl hart abringen muss, wurde er vom Ressentiment besiegt und ist missraten.

Daher handelt es sich bei der Zweiteilung der Menschen in Missratene und Wohlgeratene nicht um eine rechtsradikale Anthropologie: jeder kann wohlgeraten und jeder kann missraten. Der ärmste Sklave kann der Kaiser Roms werden und der Kaiser Roms kann zum übelsten geisteskranken Schurken entarten.

Das Mitgefühl ist nicht der Weg zur Katharsis des Missratenen, weil das Mitgefühl des Missratenen immer ein taktisches, ein berechnendes ist. Nächstenliebe ist, wie jede Form der Liebe, spontan und authentisch. Zwang kann weder Verliebtheit noch Wohlwollen erzeugen. Nur die Demut führt zur Katharsis – die Liebesfähigkeit ist, wie die Wohltätigkeit, eine Ressource, die der Missratene gar nicht hat. Er kann bestenfalls seine Schuldigkeit tun.

Die Angstmache vor den ungezähmten Wohlgeratenen entspringt der Projektion: der Missratene weiß, dass er selbst ein Lügner, Betrüger, Verräter und Schinder ist, und stellt sich den Wohlgeratenen als einen sich ähnlichen Widerling vor, nur viel mächtiger. Um der Hasspropaganda gerecht zu werden, bräuchte der Wohlgeratene aber Fähigkeiten, die er gar nicht hat, weil er sie nicht entwickeln konnte: die Fähigkeit, ehr- und würdelos zu handeln kann nicht theoretisch erlernt werden.

Der Missratene bettelt kniend um Mitleid, um seinen Wohltäter im nächsten Augenblick auszurauben; er erbettelt Frieden, um bei nächster Gelegenheit heimtückisch zu meucheln. Nur Feigheit hält den gemeinen Massenmenschen von Mord und Vergewaltigung ab.

In der demokratistischen Gleichmacherei wird der seltenere Wohlgeratene vom großen Haufen der Missratenen für ihresgleichen gehalten, und weil er stärker, klüger, schöner, besser ist, werden die in jedem Missratenen schlummernden Charakterfehler und bösen Absichten hochkonzentriert auf den Wohlgeratenen projiziert.

Montag, 6. März 2023

Harte Ziele

 

 

 

 

Nietzsche würde im Kinozeitalter seinen von allen Fesseln des Gewissens befreiten Wohlgeratenen zum Beispiel in Lance Henriksens Charakter aus dem Film "Harte Ziele" erkennen. Dieser wahre Gentleman ist kein Monster: kein Psycho- oder Soziopath, der zu seinem Vergnügen vergewaltigt und foltert. Aber er tötet zu seinem Vergnügen, und zwar Menschen, die sich für Geld eine Nacht lang auf den Straßen der schlafenden Stadt jagen lassen. Die Jäger sind dekadente Reiche, die schon jedes Vergnügen kennen, und die eine Hetzjagd auf menschliches Wild genießen.

Van Dammes Charakter gerät mit diesen Reichen in Konflikt, weil der Vater einer jungen Frau, die er gerade kennengelernt hat, bei einer Menschenjagd, in die er selbst (für Geld) eingewilligt hat, ums Leben gekommen ist. Der arbeitslose Matrose mischt sich in etwas ein, was Erwachsene freiwillig untereinander vereinbart hatten. Der Einsatz des armen alten Mannes war sein Leben gewesen, das hat er selbst so entschieden. Doch wer kann dem wohlgeratenen starken jungen Mann, der an der Tochter des Getöteten romantisch oder erotisch interessiert ist, verbieten, aus Rache für deren Vater den Kampf aufzunehmen?

Der siegreiche Charakter Van Dammes sagt zum Schluss, dass auch arme Menschen ihren Spaß haben wollen (der Konflikt mit der Gruppe der Menschenjäger geriet zu einem herrlichen Action-Showdown). Er hätte auch sagen können: "Verwechselt Wohlgeratensein nicht mit sozialem Status!"

Der Wohlgeratene muss nichts beweisen, er kann auch als Rumtreiber leben. Einer mit hohem sozialen Status, der nach unten tritt und nach oben buckelt, ist eindeutig ein Missratener. Der Wohlgeratene bestimmt selbst über sein Leben, er geht seinen eigenen Weg. Oder sprechen wir bereits über den Vortrefflichen, den idealen Wohlgeratenen? Jedenfalls gilt die Meinung der anderen dem Wohlgeratenen nichts, also pfeift er auch auf die Gesellschaft und den Status, den diese ihm zuschreibt.

Was nicht bedeutet, dass der Wohlgeratene sich keinen hohen Status erstreiten würde. Wenn es seinen persönlichen Zielen dienlich wäre, würde er erfolgreich und auch reich werden wollen. Er hegt keine grundsätzliche, "moralische" Verachtung gegen die Gesellschaft. Er nutzt die Gesellschaft und ihre Spielregeln, wie es ihm passt.

Das Karma

 

 

 

 

Warum soll der Wohlgeratene überhaupt ein Gewissen haben, wenn es das Leben nur schwerer macht, und außerdem missbrauchsanfällig ist? Weil das Gewissen auch das Organ ist, mit dem das eigene Karma intuitiv gespürt wird. Ohne Gewissen fehlt das Gefühl für das Weltganze. Das Karma kann aber auch intellektuell errechnet werden, nur ist es ziemlich unangenehm bis nahezu unerträglich, im kosmischen Sinne nicht intuitiv zu wissen, woran man ist.

Gewissenlos unter Missratenen zu leben bedeutet, sich des kategorischen Imperativs ihnen gegenüber zu enthalten, sie manipulativ, wie bloße Mittel zum Zweck zu behandeln. Doch wird der durch den Willen zur Macht getriebene Machiavellist nicht sofort morden und vergewaltigen, wenn er sein Gewissen abwirft? "Ohne Gewissen, da wird doch jeder machen, wozu er Lust hat. Kinder missbrauchen!" Warum, antworten wir, o Missratener, denkst du zuallererst daran? Weil es wohl deine Machtphantasie ist! Welche Lust hat ein geistig gesunder weltlich erfolgreicher Lebemann daran, ein Kind leiden zu lassen? Würde er sich nicht lieber um die echte Zuneigung einer Frau bemühen, die ihm körperlich und geistig gewachsen ist, um sie werben und konkurrieren, s/meinetwegen auch mit unfairen Mitteln?

Doch der Missratene nutzt jedes Machtungleichgewicht aus, um sich an Schwächeren abzureagieren. Ein missratener Vater, der heimlich seine Tochter vergewaltigt, denkt gar nicht so heimlich, seine Frau sei daran schuld: weil sie sich ihm seit Jahren sexuell verweigert, weil sie zu dick geworden ist, – ein Grund lässt sich immer finden. Der Missratene schließt von sich auf andere, und kommt so zu seinen menschenverachtenden Schlüssen.

Der Wohlgeratene weiß, dass jeder Mensch anders ist, und stellt sich der Gefahr des fortwährenden Missverständnisses, und auch der Tatsache, dass er die Mitmenschen nie wirklich kennen kann, dass jeder Mensch für den anderen unberechenbar und unkontrollierbar ist. Erst in diesem Zusammenhang hat sein Wille zur Macht überhaupt einen Sinn. Wenn aber – real oder mithilfe einer Lebenslüge – deine Welt in Ordnung ist, und bereits von guten Mächten regiert wird, wozu das kraftraubende Streben nach Macht, wenn doch der Genuss des Lebens am naheliegendsten ist?

Das Gewissen

 

 

 

 

Das Leben ist leicht. Es kann hart, schmerzvoll, tragisch sein, und es ist immer noch leicht. Erst das Gewissen verleiht dem Leben Schwere.

Das Gewissen ist ein Speichermedium für Ressentiments, es ist das personalisierte Gedächtnis. Erinnerungen werden darin nicht neutral und objektiv nach Wahrheit und Wichtigkeit, sondern immer im Bezug zur eigenen Person gespeichert.

Wer die doppelte Buchführung erfunden hat, hat, wie die meisten Erfinder, bloß bei der Natur abgeschaut. Das Gewissen speichert Schuldscheine und Gutscheine; weil die Schuldscheine gültig sind, solange die sich schuldig fühlende Person ihre Gültigkeit durch die Schuldgefühle anerkennt, ist die Schuld harte Währung. Die Gutscheine sind immer unsicher, da eine Person nie wissen kann, ob sie tatsächlich bekommt, was ihr nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden zusteht.

Die uneingelösten Gutscheine verwandeln sich in Ressentiments. Diese berechtigen zum Hass, ohne sich dabei zu versündigen; berechtigter Hass wird ausgelebt und der Gutschein damit verbraucht. Doch hier denkt der Missratene, er würde den Gutschein dennoch für alle Ewigkeit besitzen. Er hat den Kuchen in Form von Hass (Versündigung gegen die Nächstenliebe, Übelwollen, eventuell Schadenfreude) längst gegessen, führt ihn aber weiterhin als einen Akitivposten. In den Seelenkellern der Missratenen stapeln sich gegessene Kuchen.

Die Schuld ist unmittelbar durch das Schuldgefühl wirksam. Deshalb werden Schuldgefühle benutzt, um andere zu beherrschen, zu entwaffnen oder zu schwächen. Die Sklaven bleiben durch ihre Schuldgefühle (wobei es hier eher die Furcht vor der Hölle ist) versklavt und erlösen sich nicht selbst durch den Freitod. Die mittelmäßig Missratenen werden durch Schuldgefühle zu moralisch besseren Taten angetrieben als ihre wahren Absichten (wobei es bei ihnen eine zum Schuldgefühl konditionierte Angst vor Strafe ist). Nur die Wohlgeratenen empfinden Schuld als Schuld: Reue, Bedauern, Selbstverachtung, und haben den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, und den unbedingten Willen, den Schaden wiedergutzumachen.

Auf dem Gewissen der Wohlgeratenen, das nach Reinheit strebt, parasitieren die Missratenen, indem sie ihnen Schuldgefühle machen. Manche der Wohlgeratenen, die weniger Geistig-Apollinischen und mehr Seelisch-Dionysischen, legen das Gewissen ab und befreien sich so von ihrer Schuld. Dann werden sie von den Missratenen als gewissenlos bezeichnet. Doch die Qual des Gewissens ist für einen Menschen, der wahrhaft nach seinem Ideal strebt, viel leidvoller als die dumpfe Angst der Ochsen vor dem Schlächter, ohne dessen Vorstellung sie sofort zu Verbrechern geworden wären.

Die Manipulation des Gewissens, der Missbrauch der Schuldgefühle, verursacht beim höheren Menschen so schweres Leid, dass er moralisch berechtigt ist, das Gewissen abzulegen, um weiter leben zu können: um nach der Selbstvervollkommnung zu streben, musst du am Leben sein. Dieser Zwangsabstieg vom Apollinischen zum Dionysischen ist bereits der Preis, den der Wohlgeratene für das Abwerfen des Gewissens bezahlt hat, und nun hat er das Recht, sich wie ein ungezähmtes Raubtier zu verhalten und rücksichtslos Gewalt gegen die Missratenen auszuüben: sie haben ihm bereits durch dieses Herunterziehen Gewalt angetan, und so kann er ihnen gegenüber nicht mehr schuldig werden.

Sonntag, 5. März 2023

Gut und Böse

 

 

 

 

Wenn der Mensch ein zwischen dem Tier und dem Übermenschen aufgespanntes Seil ist, dann ist all das gut, was das Potential des Menschen, Übermensch zu werden, fördert, und all das böse, was dieses Potential hemmt, und damit den Menschen in ein (bloßes) Tier verwandelt.

Der göttlichere und der tierischere Mensch verhalten sich zueinander wie Gut und Schlecht, Gut und Böse sind dagegen keine Zustands-, sondern Willensbeschreibungen. Der böse Wille will das Höhere dem Niederen unterwerfen: die Schönheit der sexuellen Attraktivität, das Menschliche dem Tierischen, das Recht der bloßen Gewalt.

Die Wohlgeratenen sind auf dem Weg zum Übermenschen durch glückliche Fügung oder Karma weiter als die Missratenen. Da dieser Unterschied nur graduell ist, kann nicht gesagt werden, dass die Missratenen keine Würde besitzen: sie haben diese nur im geringeren Maße. Würde muss verdient und kann verwirkt werden. Aber Würde wird, wie Liebe oder Gnade, auch gegeben, und der Prinz bekommt nunmal mehr Würde in die Wiege gelegt als der Bauernsohn.

Das Bestehen auf seiner Würde ist Ehre. Mehr Würde bedeutet mehr Form: der Würdigere muss sich mehr in Form halten, das Leben des Würdigsten gleicht einem Ritual ohne Willkür, ohne falsche Bewegung.

Die Wahrhaftigkeit bildet die Basis der Integrität. Das Gegenteil, die Verlogenheit, untergräbt die Integrität. Der wahre ontologische Status und der Habitus einer Person müssen in Harmonie sein. Dies bedeutet keineswegs, dass es eine Tugend ist, sich selbst zu erniedrigen. Im Gegenteil: die Selbsterniedrigung ist unehrenhaft, weil sie die Würde des eigenen ontologischen Ranges verletzt.

Die größere Gefahr geht ohnehin von der Selbstüberschätzung aus. Deshalb ist der größte Feind der Integrität die Hybris. Die Tugend, die diesen Feind schlägt, ist die Demut.

 

Die Raubtiere

 

 

 

 

In der Hochkultur herrscht das Geistige, in der Dekadenz wird seine Herrschaft schwächer und die vortrefflichen Lebemänner begehren auf. Sie stellen die Sitten in Frage, die Moral, die Besitzverhältnisse. Wieder sind wir bei Nietzsches Priester: diese Figur an der Schwelle zwischen den Wohlgeratenen und den Missratenen hätte gar keine Macht, den wohlgeratenen Raubtieren etwas zu verbieten. Nur die apollinische Herrschaft der geistig Wohlgeratenen kann die Gier der im Leben Vortrefflichen im Zaum halten.

Die Dekadenzphase kennt den Dandy, den Libertin, aber auch den Kapitalisten und Spekulanten. Solche Figuren gibt es immer, aber sie können nur in bestimmten sozialen Phasen viel Macht akkumulieren. In der Ultradekadenz beginnen sie sogar völlig zu herrschen. Der Rockstar, der eine vierstellige Anzahl an Frauen fickt, der Topmanager, der Milliarden scheffelt, der Ölmagnat, der die Politik ganzer Staaten lenkt: das ist Adornos und Horkheimers "Gesetz des Dschungels". Jeder nimmt sich, was er kann. Gesetze sorgen für oberflächliche Ordnung und verrechtlichen die Unrechtsverhältnisse. Aber ist es wirklich Unrecht?

Warum soll sich der Starke zurückhalten, wenn er sieht, dass die hohen Werte nicht mehr gültig sind? Auf wen soll er Rücksicht nehmen, wenn die Schwachen als Masse kein Recht, sondern schäbige Interessen durchsetzen wollen? Außerdem gibt es nicht nur einen Starken; hält sich einer zurück, reißt ein anderes Raubtier seine Beute.

Eine dekadente Gesellschaft hat keine geistig-moralische Autorität, um den Starken etwas zu verbieten. Sie gibt ja auch dem Gejammer der Schwachen nun immer mehr nach, die in der Masse stark sind, stärkt nach jeder Legislaturperiode weiter ihre "Rechte", lässt die politische Agenda von selbsternannten oder tatsächlichen Opfergruppen bestimmen. Nietzsches Priester wollte den Wohlgeratenen Gewissensbisse aufbürden, die dekadente Gesellschaft bürdet ihnen Rechnungen auf. Dann wandern sie halt in Länder aus, die ihre Raubtiere in Ruhe lassen: diese starken Persönlichkeiten sind letztlich in der Konkurrenz der Länder untereinander entscheidend. Deutschland hat aus bestimmten Gründen keinen Bill Gates, Steve Jobs oder Elon Musk.

Die Frage, was gut und was böse ist, muss von der Frage getrennt werden, wer die moralische Autorität hat. Die Moralfrage kann nicht auf die Machtfrage reduziert werden, aber sie erübrigt sich in einer dekadenten und erst recht ultradekadenten Gesellschaft, da sie sich niemandem mehr stellt.

Der Stutenkult

 

 

 

 

Die Schönheit ist elitär, aristokratisch. Die wohlgeratene Frau verletzt durch ihre Existenz die freiheitlich-demokratische Grundordnung (des Pöbels, – muss dieser Satz beendet werden). Die schöne Frau ist nicht "emanzipiert", sie ist nicht Mannsweib genug. Eine Frau, die nicht grob, laut, vulgär, nuttig, tätowiert und zigarettenabhängig ist, ist ein "Opfer des Patriarchats". Und so wurde das ewige weibliche Schönheitsideal der grazilen Elfe, der zarten Fee durch die sexuell aufreizende banal-vulgäre Stute ersetzt.

Dabei bleibt die Sendung "Deutschlands nächstes Topmodel", die, obwohl von Deutschen für ein deutsches Publikum produziert, ihren Titel auf Englisch trägt, nicht dabei stehen, die Fleischbeschau halbnackter mit allen Abwassern gewaschener junger Stuten zu zelebrieren: auch das Fleisch hässlicher und sogar alter Frauen wird gezeigt, wo doch das zugrundeliegende Schönheitsideal Jugend, Gesundheit und sexuelle Attraktivität impliziert. Das ist so grausam diesen Teilnehmerinnen gegenüber, als würde man geistig Behinderte bei intellektuellen Quiz-Shows vorführen.

Aus dem Kult der bloßen Gesundheit wurde im Zeitalter der Ultradekadenz der Kult der Banalität bloßer Weiblichkeit, was immer das heute auch sein soll: es reicht mittlerweile, sich als Frau zu fühlen, um als Frau anerkannt zu werden. Die im Arsch-und-Titten-Terror der Aufmerksamkeitsfängerinnen exhibitionistisch vorgeführten sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale werden sogar noch in den Schatten gestellt durch die zunehmende Verhässlichung der tertiären Geschlechtsmerkmale.

Zunächst einmal ziehen sich von Armut nicht unbedingt betroffene Frauen immer mehr wie Pennerinnen an; der Nutten-Look gilt als ein vom Feminismus erkämpftes Recht der Frau. An ungepflegten Händen sind bizarre künstliche Fingernägel aufgeklebt, zu groß, hässlich, nicht selten widerlich, und oft schlampig gemacht. Tätowierungen und Piercings gelten als Standard. Vorsätzlich hässliche Frisuren sollen Stärke und Unabhängigkeit symbolisieren. Gesundheitlich gefährliche Fettleibigkeit gehört zum Kanon der Frauenrechte, der Hinweis auf gesundheitliche Schäden von Fettleibigkeit gilt als patriarchale Bevormundung.

Die Kultur, die Gesellschaft, die Kunst, den Missratenen überlassen, degenerieren. Die Wirtschaft, die Naturwissenschaft und die Technologie, wo die Wohlgeratenen immer noch das Sagen haben, sorgen mit ihren Leistungen dafür, dass dieses Kranken- und Irrenhaus, das wir Gesellschaft nennen, weiterhin bestehen kann.

Der Ochsenkult

 

 

 

 

Nietzsche, der für die Löwen schrieb, wurde von den Ochsen vereinnahmt und auf ein entsprechendes Niveau heruntergebrochen (die debilsten Ochsen waren die Nationalsozialisten). Dabei war Nietzsche schon selbst eine Dekadenzerscheinung: er machte einen Kult um eine Selbstverständlichkeit (die körperliche Vitalität) und musste sein Ressentiment gegen das gesunde Geistige verarbeiten (bezeichnend: er wurde schließlich geisteskrank).

Der Kult um das vortreffliche Leben, das "den Geist nicht nötig hat" (Thomas Mann, eine weitere Figur der abendländischen Dekadenz), wurde heruntergebrochen auf einen Kult um das bloße Leben. Noch mehr als für Nietzsche war für seine rindtierischen Nachfolger alles Geistige (und nicht erst die Moral) ein Zeichen der Schwäche, des Losertums, der Minderwertigkeit. Aus der Organminderwertigkeit entstehe die geistige Überkompensation, so die Küchenpsychologie der Zeit.

Wer den Brutalen, Rücksichtslosen, Starken böse nennt, ist ein Heuchler, denn er würde genauso handeln, wenn er auch stark wäre: das ist vitalistische Moralkritik. Diese Kritik ist größtenteils zutreffend, denn die Moralität degeneriert tatsächlich immer wieder zum Werkzeug des Neids und Ressentiments: die Moral als Waffe der Schwachen.

Die Intellektualität als solche aber für minderwertig zu erklären, wie der Antiintellektualismus der abendländischen Spätdekadenz es vermochte, verkehrt berechtigte Kritik in unfreiwillige Selbstparodie: hier entlarven sich Idioten als das, was sie sind. "Du bist ein Schwächling, also liest du Bücher!" "Nur Loser spielen Schach, echte Männer boxen!" "Die Trauben des weltlichen Erfolgs waren unerreichbar für ihn, also immatrikulierte er sich an der philosophischen Fakultät".

Wenn jene, die vom Geist nichts verstehen, über den Geist urteilen, kann nicht einmal von einer intellektuellen Fehlleistung gesprochen werden, denn die Grundlage des Urteils ist eine auf Emotionen basierende Überzeugung. Das Ressentiment des Dummkopfs gegen den Intellektuellen mit dem zugleich wahrgenommenen Intellektualismus der europäischen Juden hat den Antisemitismus der Missratenen in einen Tsunami des Hasses verwandelt, der Fabriken der Menschenvernichtung auftürmen konnte. Die normative Kraft des Faktischen angesichts der Tatsache, dass die antiintellektualistische Mehrheit eine Minderheit von Intellektuellen und Juden planmäßig vernichten konnte, bestärkte den magischen Volksglauben an die Macht der braunen Masse und die Ohnmacht des Geistes, des Genies, der Persönlichkeit.

Das Schlusskapitel des Kriegs der Welt (1904-1953, Niall Ferguson) waren jedoch nicht die Gaskammern, die im Prinzip auch von Imbezillen hätten bedient werden können, sondern eine Hochleistung "abstrakter" Intellektualität, theoretischer Physik: die Atombombe zwang als vergleichsweise konservative Uran- bzw. Plutoniumbombe das bis in den Untergang kampfbereite Japan zur Kapitulation, die bald daraufhin getestete Wasserstoffbombe machte eine Fortsetzung der Weltkriege des 20. Jahrhunderts undenkbar.

Die Vortrefflichen

 

 

 

 

Bin ich als Wohlgeratener schon vortrefflich? Ich denke, es wäre klüger, zwischen "wohlgeraten" und "vortrefflich" einen pädagogischen Hiatus klaffen zu lassen. Was will ich als Wohlgeratener? Vortrefflich sein.

Es ist, als läse ich ein Buch, und könnte nicht aufhören, weiterzulesen, nur dass ich es gerade nicht lese, sondern schreibe. Ich bin in meinem Element. Die schon bekannte Moralkritik Nietzsches ließ mich als scheinbar erledigte Sache lange kalt, bis ich ein Buch von Johan Huizinga las, der in den 1930-ern den Vitalismus, den Kult um das (bloße) Leben und den damit einhergehenden Niedergang der Vernunft analysierte. Da dämmerte mir, dass erst mit der Altersschwäche der (geistigen) Hochkultur das (naturhafte) Leben zum Ideal werden konnte, wo es früher selbstverständlich war. So wie früher erst bei echter Schönheit Frauen und Männer als vortrefflich hervorgehoben wurden, während die heutigen Stuten und Hengste bereits für bloße Gesundheit verehrt werden (Models, Instagram- und Pornostars).

Ich bin Philosoph, Denker. Dass mein Körper gesund ist und gut funktioniert, ist eine Selbstverständlichkeit, von der ich ausgehe, und die ich wiederherstelle, falls dem mal nicht so ist. Ich lebe gesundheitsbewusst, mache aber keinen Gesundheitskult daraus. Ich trainiere; ich ziehe mich adrett an, ich trage Parfüms von Tom Ford. Ich genieße viel, bin aber kein Hedonist. Die Hauptsache bleibt die Leidenschaft des Denkens, die, gegen Kant, Lust und Pflicht zugleich ist. Ich will denken und das verpflichtet mich moralisch, Denker zu sein. Ich will besser denken, ein besserer Denker sein. Das zeigt sich auch daran, welche Beleidigungen mir nahe gehen. Bei "Impotent" zucke ich mit den Schultern, bei "Dummkopf" zucke ich zusammen.

Die Vortrefflichen sind durch ihren eigenen Willen bestimmt, während die Gemeinen durch den Willen anderer (oder das Schicksal oder den Zufall) bestimmt sind. Die Vortrefflichen tragen Verantwortung für ihr Geschick, für das Schicksal der Gemeinen ist "die Welt" verantwortlich.

Die Gemeinen sind wiederum nicht zwangsläufig missraten. Obschon es ein ästhetisches Vergehen ist, von wohlgeratenen Gemeinen zu sprechen, muss bescheidenen, mit wenig zufriedenen, freundlichen und fleißigen Frauen und Männern aus dem einfachen Volk Respekt gezollt werden. Wenn der Ochse kein Löwe sein will, ist er kein gemeiner Ochse mehr, sondern ein respektabler Stier.

Der Vortreffliche ist eine Persönlichkeit, keine "Farbrikware Mensch" (Schopenhauer). Die Vortrefflichen sind daher einzigartig und trotz allen Ehrgeizes zu aufrichtiger Anerkennung anderer fähig. Der Neid hält sich aufgrund hoher Differenziertheit in Grenzen. Die "Farbrikware Mensch" gleicht sich jedoch wie die Murmeln aus derselben Glasmanufaktur; jedes Herausstechen aus der Masse erzeugt bei den Gemeinen Neid und Argwohn.

Der Vortreffliche weiß, dass die Ausdifferenzierung und Entwicklung einer Meisterschaft nur auf Kosten anderer Errungenschaften gehen kann. Der Wohlgeratene ist nicht erst dann wohlgeraten, wenn er ein Hansdampf in allen Gassen ist: er findet seine Identität und baut das ihm körperlich und geistig Gegebene um diese herum. Du kannst ein Schloss, ein Tempel, eine Burg, eine Kathedrale oder ein Stadion sein, aber nicht alles zugleich. Der Missratene ist an sich überhaupt nichts, er nimmt wie Wasser die Form des Gefäßes an, in welches er vom "Leben" gegossen wird.

Die Selbstprüfung

 

 

 

 

 

Nietzsches Zweiteilung der Menschheit in die Wohlgeratenen und Missratenen ist grundsätzlich zutreffend, auch wenn die Menschheit ontologisch dreigeteilt ist (Lehrstand, Wehrstand, Nährstand). So gibt es auch wohlgeratene Bauern, vortreffliche Kaufleute, Menschen aus dem Dritten Stand, die nicht im Ressentiment gegen die höheren Stände leben. Da die Ständegesellschaft nicht mehr existiert, geht es heute um (Neid auf) den inneren Adel.

Ich erkenne und anerkenne Nietzsches Unterscheidung, und muss mich somit selbst prüfen. In der Tradition härtester Selbstkritik zähle ich mich sofort zu den Missratenen, und mein erster Impuls ist der Entschulss zum Suizid.

Wer aus einem anderen Grund als dem Wunsch, zu leben, oder der Furcht vor dem Tod den Suizid unterlässt, lügt. Keiner lebt um der Anderen willen, wenn er sterben will. Das sind nur Ausreden, um die mutige Tat der Selbstentleibung zu fliehen. Die Gründe sind immer geheim und meistens jämmerlich. Die meisten Verzweifelten bringen sich nicht um in der Hoffnung, dass sich jemand doch noch ihrer erbarmt. Der Glaube daran, aufgrund eines Selbstmords in die Hölle zu kommen, beleidigt die Güte Gottes. Gott wird arme Verzweifelte, die keine Kraft zum Leben mehr hatten, nicht zum Teufel schicken.

Alles Probleme, die mir fremd sind. Bei mir bedarf der Suizid nur eines festen Entschlusses. Sollte ich mich tatsächlich am Ende der Selbstprüfung zu den Missratenen zählen, wäre mir der Weg zum Freitod durch keine Ängste oder Hoffnungen verbaut. Aber wenn ich mich als missraten empfinde: missraten als was? Als Mensch schonmal nicht, denn meine Würde, Ehre und Integrität habe ich stets erfolgreich verteidigt. Ich habe nie meine Seele verkauft und keine Todsünde begangen: ich habe das Recht, zu leben, nicht verwirkt.

Bin ich als Mann gescheitert? Was für ein Mann – ein Männchen, ein Deckhengst? Der wollte ich nie sein. Wo ist meine olympische Medaille? Warte, ich suche. Allenfalls für Denksport habe ich eine: einen Hochbegabtenschein. Aber weltlichen Erfolg kann ich nicht nachweisen. Bin ich also ein Missratener, der nur intelligent ist? Was bedeutet denn "nur intelligent"? Habe ich außer Intelligenz nichts, was mir Wert gibt, keine Würde, keine Ehre, keine Integrität (erkämpft und verteidigt, nicht bloß behauptet)?, – doch, durchaus. Lebe ich selbst- oder fremdbestimmt? Lebe ich in Liebe und Heiterkeit oder in Hass und Ressentiment? Oh là là: ich bin ein glücklicher Philosoph.

Aber was ist ein Philosoph? Der Fussballspieler fragt: "Wie viele Tore hast du in deinem Leben geschossen?" Ich muss zugeben: "Keins bei offiziellen Spielen". Der Casanova fragt: "Wie viele Frauen hast du verführt?" Ich muss sagen: "Null". Der Scharfschütze ist neugierig: "Wie viele Feinde hast du getötet?" Ich sage: "Ich habe noch keinen Menschen getötet". Und es ließen sich weitere arbiträre Kriterien anführen, nach denen ich missraten wäre. Aber was ist mein eigenes Ideal? Was will ich, was wollte ich schon immer sein? Die Leidenschaft des Erkennens hat meinen Willen ergriffen, als ich noch ein Kind war. Das forschende und denkende, geistige, theoretische Erkennen war immer die Herausforderung, die vor mir lag. Ich bin nicht als gescheiterter Rennfahrer Philosoph geworden.

Vortrefflich zu sein im Geistigen aus Überschuss oder wenigstens ohne Sorge um das körperliche Wohl oder den weltlichen Erfolg macht aus mir einen Wohlgeratenen. Vortrefflich! Ja, das bin ich.

Die Gemeinen

 

 

 

 

Apollinisch und dionysisch sind die Vortrefflichen, chthonisch und tellurisch sind die Gemeinen. Apollinisch ist der Geist, dionysisch ist das Leben. Das ist keineswegs ein kontradiktorischer Gegensatz, denn der Geist ist lebendig, und das Leben geistig.

Wo das Leben das Geistige verlässt, in die bloße Natur absteigt, wird der vortreffliche Dionysos durch seinen gemeinen Doppelgänger, den titanischen Adonis, ersetzt. Die Werte des Vortrefflichen (Ehre, Würde, Schönheit) werden durch selbstbezügliche Interessen ausgetauscht. Die Vortrefflichen sind selbsttranszendent, die Gemeinen sind selbstimmanent.

Durch Selbsttranszendenz gewinnen die Vortrefflichen Leichtigkeit und Ironie. Der vortreffliche buddhistische Mönch hasst das Leben nicht: seine Lebensverneinung besteht darin, dass er das Leben leicht, nicht ernst, ironisch nimmt. Jesus-Adonis schreit: "Vater, warum hast du mich verlassen!?" Jesus-Dionysos spricht: "Es ist vollbracht" (beide wohlgemerkt ans Kreuz genagelt unter starken Schmerzen).

Der Vortreffliche lebt seine Werte und Ideale, d. h. er lebt, wie er will. Da seine Werte mit ihm untrennbar verbunden sind, hat er Wert. Da die Wertbindung des Gemeinen unverbindlich und opportunistisch ist, ist er wertlos.

Der Gemeine lebt im Verbrechen, wie er kann, und im Gesetz, wie er muss. Er lebt nie, wie er soll: die genuin moralischen Handlungsmaximen schiebt er nur vor. Der Vortreffliche hat Gründe für seine Taten, der Gemeine hat Ausreden.

Das Sollen ist eine Selbstprüfung des Vortrefflichen, der sich fragt, ob er seinem Ideal genügt. Für den Gemeinen soll immer der Andere: der Reiche soll teilen, der Schöne soll nicht so glänzen, der Glückliche nicht so strahlen; Jesus soll geben (Glück und Gesundheit z. B.), Maria soll nehmen (den Schmerz und die Verzweiflung), jeder soll, jeder ist dem Gemeinen etwas schuldig. Schließlich hat man sich ja ohne Widerrede hinten in der Reihe angestellt, und gewartet, bis man mit all dem "dran" ist, wofür die, die es schon haben, entweder Glück und gutes Karma oder aber Mut und Geschick gebrauchen mussten.

Der Missratene ist um die Frauen von Leonardo DiCaprio betrogen worden, denn Gott hätte doch auch ihn einen Leonardo DiCaprio machen können.

Die Nihilisten

 

 

 

 

Die Vitalisten sind die, die aus Mangel an Leben das Leben bejahen. Die Nihilisten verneinen das Leben aus demselben Grund.

Der Vitalist will, aber kann nicht. Der Nihilist weiß, dass er nicht kann, also will er nicht. Der Vitalist ist ein Belohnungsoptimist, der Nihilist ein Belohnungspessimist. Ein Nihilist mit Ressentiment verhält sich gegenüber dem Leben wie Äsops Fuchs zu den Trauben.

Der Missratene ohne Ressentiment stellt einfach fest, dass er missraten ist. Das – die geistige Selbstbestimmung – erhebt ihn bereits über die Herde der Kranken, die ihren Priester suchen, um Lebenslügenelixier verabreicht zu bekommen. Der aufrichtige Missratene stellt aber fest, dass er missraten ist, und setzt seinem Leben souverän ein Ende. Das wäre der edle Nihilismus, den wir den lakonischen Nihilismus nennen können.

Denkt der Missratene, zu viel gelitten zu haben, so will er lieber noch weiter leiden, als die Verlustrechnung zu akzeptieren und das Geschäft des Lebens abzuschließen. Seine Lebenslüge ist die ausgleichende Gerechtigkeit, die aus göttlichem Mitleid resultiert. Er will die Liebe Gottes als Caritas, und dieses Betteln um das Mitleid macht ihn für die Götter verachtenswert. Ein Niederer, der um Mitleid fleht, löst bei einem Höheren Ekel aus.

Der Missratene erliegt nicht so sehr dem Trugschlusds der versunkenen Kosten – das wäre ein rationaler Irrtum, aber der Schlechtweggekommene denkt nicht rational, sondern magisch – , vielmehr will er Wiedergutmachung, Genugtuung und Rache. Und seine Rache besteht darin, dass für ihn das Leben nicht sein soll.

Die Verneinung des Lebens als moralisches Ideal erscheint in vielen Religionen seit der "Achsenzeit" (Karl Jaspers). Buddhismus, Manichäismus und Gnosis haben das Leben selbst für das Böse erklärt; wo das Gute stattfinden soll, wenn nicht in einem anderen, besseren Leben, ist eine Frage, die nach der Schwere und Dichte des Ressentiments jeweils anders beantwortet wird. Entweder wartet, nachdem wir den Gott dieser Welt als einen bösen Demiurg entlarvt haben, eine bessere Welt auf uns, vom "wahren Gott" erschaffen, oder die Verzweiflung hat schon alle Hoffnung aufgefressen, und wir dürfen uns auf das Nirwana freuen. Das Nichtsein muss natürlich durch wahrhaftige Verneinung des Seins redlich verdient werden.

Überhaupt macht den besonderen Charakter eines Ressentiments das darin enthaltene Mischverhältnis von Hoffnung und Verzweiflung aus. Überwiegt die Hoffnung, ist der Missratene grundsätzlich Vitalist; überwiegt die Verzweiflung, ist er Nihilist.

Samstag, 4. März 2023

Die Vitalisten

 

 

 

 

Für die Kranken ist Gesundheit ein Dauerthema. Den Gesunden ist sie selbstverständlich, sie reden nicht darüber. So verhält es sich mit den Vitalisten im abendländischen Zeitalter der Dekadenz: erst wenn das Leben nicht selbstverständlich ist, wird es auf ein Podest gestellt. Für wen Leben, Erleben, Lebendigkeit, Lebenskraft, Lebenssinn usw. prekär werden, der beginnt das Leben zu idealisieren. Da das Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit im Leben ein Geistiges ist, wird das "starke" Leben dem "schwachen" Geist gegenübergestellt.

Schwach ist jedoch nur der minderwertige Geist des Vitalisten, der dem Leben nicht gewachsen ist. Der Geist an sich verhält sich zum Leben wie der Reiter zum Pferd. Schwacher Verstand und schwacher Wille verursachen Verwirrung und Angst: der Dekadente steht vor dem Leben wie das Kaninchen vor der Schlange.

Das Leben hat Vorrang vor dem Denken, es muss, soll, will gelebt werden! – Schön und gut, aber wer lebt denn das Leben? Das Leben lebt sich übrigens auch selbst, es bedarf des vortrefflichen wohlgeratenen vernunftbegabten Menschen nicht, es kann auch eine ewige Abfolge tierischer Generationen sein. Aber wer lebt das Leben eines Menschen? Das Subjekt, das seiner Selbst als seiner Selbst bewusst ist. Das da-seiende Selbstbewusstsein ist schon dann im Leben mittendrin, wenn es aus dem Grübeln nicht herauskommt, wie es sein Leben leben soll.

Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben ist der Übergang vom Vitalismus der Dekadenz zum Vitalismus der Ultradekadenz: verehrte der dekadente Vitalist Nietzsche das starke, siegreiche, wohlgeratene, vortreffliche Leben, so ist für den Fürsorge-Vitalisten bereits die Tatsache, dass etwas lebt, anbetungswürdig. Das ist der Abfall des Vitalismus vom Lunaren ins Chthonisch-Tellurische.

Die Wohlgeratenen

 

 

 

 

Aus der Trichotomie des Apollinischen, Dionysischen und Chthonisch-Tellurischen wird bei Nietzsche de facto die Dichotomie des Dionysischen (Adligen, Vortrefflichen, Wohlgeratenen) und Chthonisch-Tellurischen (Gemeinen, Schlechten, Missratenen). Der Priester, der zwischen den Fronten steht, ist eine Verlegenheitsfigur, die aus dem Unverständnis des Apollinischen entstanden ist.

Die weltlich Erfolgreichen sind nach Nietzsche die Wohlgeratenen. Verglichen mit dem dummen, trägen, ängstlichen, feigen gemeinen Volk sind sie es auch. Das Volk beneidet die Großen und erklärt sie für böse. Der Kammerdiener kann nicht genug davon reden, dass Napoleon nur ein Mensch ist: er isst und trinkt, schläft und fickt, pisst und scheißt wie der Kammerdiener selbst. Darum: Friede den Hütten, Krieg den Palästen, wie Georg Bücher, der philosophierende Kammerdiener, das Ressentiment des Missratenen als Schlachtruf formuliert. Doch kein Kammerdiener wird die Armee der Kammerdiener anführen können: für eine Revolution bedarf es, so Vilfredo Pareto, einer Gegenelite.

Weltlicher Erfolg ist ästhetisch gut und moralisch neutral. Moralisch wird der Erfolg verwerflich, wenn er durch böse Taten zustande kommt. Böse ist nicht der Sieg gegen den Feind oder Konkurrenten, sondern die Verletzung der eigenen oder fremden Würde bzw. Integrität. Eine Schauspielerin, die sich den Superstar-Status am Schwanze des Weinstein erlutscht und ein Radiomoderator, der Kinder sexuell missbraucht, sind gleichermaßen böse: Hurerei verletzt die Würde der Menschheit in der eigenen Person, und Vergewaltigung verletzt die Würde der Menschheit in einer anderen Person. Religiös gesagt: was du den Unschuldigen antust, tust du Gott an. Verkaufst du deine Seele, gehörst du gleichermaßen in die Hölle.

Ja, auch der vortrefflichen heroischen Moral hängt der Makel des Sollens an, das gegen die Kraft des Faktischen scheinbar unterlegen ist. Aber nur scheinbar: denn viele Helden und Märtyrer haben das Faktische in der Geschichte der Menschheit radikal umgestürzt.

Der Missratene klagt, der Wohlgeratene kämpft. Wenn zum Wohlgeratensein notwendig der Sieg gehört, kann es stets nur einen Wohlgeratenen geben, und auch das nur für kurze Zeit. Der standhaft Kämpfende und heroisch Untergehende ist wohlgeraten, der jammernde und passiv aggressive Sklave, Diener, Lakaie, der "eigentlich dagegen ist", ist missraten.

Der Rahmen des Dionysischen wird durch die Dichotomie verabsolutiert, die tatsächliche Trichotomie zeigt aber, dass es zwiefach Wohlgeratene und Missratene gibt: im Leben und im Geist. Das Leben ist leicht, du musst es nur leben. Doch wenn du als lebenskluger, schlauer, weltlich erfolgreicher Mensch feststellst, dass du Kant oder Hegel nicht folgen kannst, und nicht, weil Philosophie bloß Quatsch, sondern weil du geistig minderwertig bist, dann gehörst du auch als Wohlgeratener nach Nietzsche zu den tatsächlich Missratenen.

Die Unfähigkeit im Geistigen macht die Starken hysterisch und aggressiv, sie wollen aus Ressentiment alles Geistige, alle Kultur kurz und klein schlagen, sie lachen über den sich selbst genügenden Philosophen, der ihrer weltlichen Dinge überhaupt nicht bedarf, wie geschminkte hässliche Weiber über die natürliche Schönheit einer wahrhaft schönen Frau. Bloße Kraft ist nicht gleich Wert. Auch der seit Menschengedenken versklavte Ochse hat Kraft: ein mittelmäßiger traurig dreinpflügender Ochse hat mehr Kraft als der stärkste Mann der Welt. Über die Maschine brauchen wir gar nicht reden, oder aber wir müssen sagen, dass der Übermensch konsequenterweise im "Transformer" oder einem autonomen Iron-Man-Anzug gesehen werden muss.

Die Missratenen

 

 

 

 

Wo Nietzsche als Dionysiker auf die Chthoniker und Telluristen herunterblickt, hat er Recht und genießt es. Ja, die Zukurzgekommenen, die Armen und Kranken, die Schlechten, die Hässlichen, die Dummen* sind die Missratenen. Und ja, sie leben immer, – ja überleben nur – mit bzw. im Ressentiment.

Aus Schwäche wird Güte, aus Ängstlichkeit wird Moralität. Und, – über Nietzsche hinaus – natürlich verdrehen sie die Wahrheit, wenn sie die Güte des wahrhaft Gütigen für Schwäche erklären und seine felsenfeste heroische Integrität für sklavische Unterwerfung unter eine äußere oder transzendente moralische Instanz.

Die Missratenen haben eine Sklavenmoral und eine Opfermentalität. Die Besseren der Schlechten sind negativ-viktim, sie leiden an sich selbst und ihrem Zustand. Die Schlechteren der Schlechten sind positiv-viktim: sie präsentieren sich schamlos als Opfer und erwarten erst Entschädigung, dann vermeintliche Gerechtigkeit, und schließlich Privilegien. Die Zugehörigkeit zu möglichst vielen Opfergruppen wird stolz zur Schau getragen.

Als Nietzsche lebte und schrieb, war das Dionysische bereits das Höchste der Gefühle: der Höhepunkt der abendländischen Kultur war seit mehreren Generationen vorbei, der Übergang von Kultur zur Zivilisation nach Spengler in vollem Gange. Der apollinische Strohmann, den Nietzsche und andere Vitalisten für ihre Polemiken gegen den Geist aufstellten, konnte sich nicht wehren: es gab keine solaren, apollinischen Denker, die Nietzsche hätten antworten können. Doch wenn der Lehrstand ausstirbt, wird der Wehrstand zum höchsten Stand, und muss sich gegen den reicher und mächtiger werdenden Nährstand behaupten, um die Kultur zu retten.

Nietzsche steht auf der Seite des Lunaren, missversteht das Solare, und tritt angstvoll nach unten gegen das Chthonisch-Tellurische: er fürchtet sich, selbst zu den Missratenen zu gehören, da er, selbst ein Mensch des Geistes, den Geist nicht gebührend schätzen kann, und andererseits den vitalistischen Werten des Lunar-Dionysischen im Leben als kränklicher, ängstlicher Grübler nicht genügt.