Sonntag, 5. März 2023

Die Raubtiere

 

 

 

 

In der Hochkultur herrscht das Geistige, in der Dekadenz wird seine Herrschaft schwächer und die vortrefflichen Lebemänner begehren auf. Sie stellen die Sitten in Frage, die Moral, die Besitzverhältnisse. Wieder sind wir bei Nietzsches Priester: diese Figur an der Schwelle zwischen den Wohlgeratenen und den Missratenen hätte gar keine Macht, den wohlgeratenen Raubtieren etwas zu verbieten. Nur die apollinische Herrschaft der geistig Wohlgeratenen kann die Gier der im Leben Vortrefflichen im Zaum halten.

Die Dekadenzphase kennt den Dandy, den Libertin, aber auch den Kapitalisten und Spekulanten. Solche Figuren gibt es immer, aber sie können nur in bestimmten sozialen Phasen viel Macht akkumulieren. In der Ultradekadenz beginnen sie sogar völlig zu herrschen. Der Rockstar, der eine vierstellige Anzahl an Frauen fickt, der Topmanager, der Milliarden scheffelt, der Ölmagnat, der die Politik ganzer Staaten lenkt: das ist Adornos und Horkheimers "Gesetz des Dschungels". Jeder nimmt sich, was er kann. Gesetze sorgen für oberflächliche Ordnung und verrechtlichen die Unrechtsverhältnisse. Aber ist es wirklich Unrecht?

Warum soll sich der Starke zurückhalten, wenn er sieht, dass die hohen Werte nicht mehr gültig sind? Auf wen soll er Rücksicht nehmen, wenn die Schwachen als Masse kein Recht, sondern schäbige Interessen durchsetzen wollen? Außerdem gibt es nicht nur einen Starken; hält sich einer zurück, reißt ein anderes Raubtier seine Beute.

Eine dekadente Gesellschaft hat keine geistig-moralische Autorität, um den Starken etwas zu verbieten. Sie gibt ja auch dem Gejammer der Schwachen nun immer mehr nach, die in der Masse stark sind, stärkt nach jeder Legislaturperiode weiter ihre "Rechte", lässt die politische Agenda von selbsternannten oder tatsächlichen Opfergruppen bestimmen. Nietzsches Priester wollte den Wohlgeratenen Gewissensbisse aufbürden, die dekadente Gesellschaft bürdet ihnen Rechnungen auf. Dann wandern sie halt in Länder aus, die ihre Raubtiere in Ruhe lassen: diese starken Persönlichkeiten sind letztlich in der Konkurrenz der Länder untereinander entscheidend. Deutschland hat aus bestimmten Gründen keinen Bill Gates, Steve Jobs oder Elon Musk.

Die Frage, was gut und was böse ist, muss von der Frage getrennt werden, wer die moralische Autorität hat. Die Moralfrage kann nicht auf die Machtfrage reduziert werden, aber sie erübrigt sich in einer dekadenten und erst recht ultradekadenten Gesellschaft, da sie sich niemandem mehr stellt.