Samstag, 4. März 2023

Die Vitalisten

 

 

 

 

Für die Kranken ist Gesundheit ein Dauerthema. Den Gesunden ist sie selbstverständlich, sie reden nicht darüber. So verhält es sich mit den Vitalisten im abendländischen Zeitalter der Dekadenz: erst wenn das Leben nicht selbstverständlich ist, wird es auf ein Podest gestellt. Für wen Leben, Erleben, Lebendigkeit, Lebenskraft, Lebenssinn usw. prekär werden, der beginnt das Leben zu idealisieren. Da das Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit im Leben ein Geistiges ist, wird das "starke" Leben dem "schwachen" Geist gegenübergestellt.

Schwach ist jedoch nur der minderwertige Geist des Vitalisten, der dem Leben nicht gewachsen ist. Der Geist an sich verhält sich zum Leben wie der Reiter zum Pferd. Schwacher Verstand und schwacher Wille verursachen Verwirrung und Angst: der Dekadente steht vor dem Leben wie das Kaninchen vor der Schlange.

Das Leben hat Vorrang vor dem Denken, es muss, soll, will gelebt werden! – Schön und gut, aber wer lebt denn das Leben? Das Leben lebt sich übrigens auch selbst, es bedarf des vortrefflichen wohlgeratenen vernunftbegabten Menschen nicht, es kann auch eine ewige Abfolge tierischer Generationen sein. Aber wer lebt das Leben eines Menschen? Das Subjekt, das seiner Selbst als seiner Selbst bewusst ist. Das da-seiende Selbstbewusstsein ist schon dann im Leben mittendrin, wenn es aus dem Grübeln nicht herauskommt, wie es sein Leben leben soll.

Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben ist der Übergang vom Vitalismus der Dekadenz zum Vitalismus der Ultradekadenz: verehrte der dekadente Vitalist Nietzsche das starke, siegreiche, wohlgeratene, vortreffliche Leben, so ist für den Fürsorge-Vitalisten bereits die Tatsache, dass etwas lebt, anbetungswürdig. Das ist der Abfall des Vitalismus vom Lunaren ins Chthonisch-Tellurische.