Montag, 26. Februar 2018
Infantilisierung von Behinderten
Wenn jemand benachteiligt oder behindert ist, werden ihm automatisch der Opferstatus und ein guter (oder zumindest friedfertiger) Charakter zugeschrieben. Man sagt über einen, der vom Glück verlassen ist: er will doch nur ein ganz klein wenig Glück. Welch ein Schwachsinn. Der hässliche Junge, den alle hänseln, ist wie die anderen in das schönste Mädchen der Klasse verknallt; der lernbehinderte Schüler will nicht bloß eine Dreiminus schaffen, und ein normales Behindertenleben führen, sondern hat höchstwahrscheinlich ähnlich große Träume von Erfolg im Leben wie seine normalen Mitschüler. Die hässliche Frau, die keinen Mann findet, will nicht irgendeinen Mann, sondern den Mann, den sie sich wünscht.
Die Internalisierung äußerer oder zumindest dem Charakter einer Person äußerlicher Umstände führt zum widersprüchlichen Verhalten anderer dieser Person gegenüber. Auf der einen Seite wird Benachteiligten und Behinderten völlig unbegründet Bescheidenheit zugeschrieben - und mit einer soliden Menge weiterer positiver Charaktereigenschaften nach ihnen geworfen - , auf der anderen Seite werden sozial schwacher Status oder Behinderung zum Anlass genommen, gegenüber diesen Menschen ungeniert Grenzen zu überschreiten, die gegenüber anderen Menschen völlig selbstverständlich eingehalten werden. Diskriminierung und Infantilisierung werden als normale Umgangsform gesehen, und wenn sie mal ausbleiben, soll der Benachteiligte oder Behinderte bitteschön dankbar sein. Da ist es durchaus von Vorteil zu wissen, dass man ihn dafür, wie jeden anderen, den man so behandelt, bitteschön am Arsch lecken kann.
Montag, 19. Februar 2018
Diesseitsromantik
Oberflächlich betrachtet, macht die Liebe das Leben sinnvoll. In Wirklichkeit verschleiert sie nur, dass alles im Großen und Ganzen egal ist, während ohne die (romantische) Liebe die Sinnlosigkeit des Lebens offen zutage liegt.
Die Liebe bündelt die existentiellen Prioritäten und fokussiert sie auf ihr (diesseitiges) Objekt. Da dieses Objekt eine sterbliche Person ist, entsteht aus der Vergänglichkeit dieser dem Liebenden ein heroisches Gefühl: er lehnt sich gegen die Vergänglichkeit der geliebten Person auf, und verehrt sie so, als wäre sie unsterblich.
Um sich nicht (vergeblich) gegen das große Egal aufzulehnen, lehnt sich der Romantiker gegen das kleine Egal auf: es ist egal, wie sehr du liebst, ihre Schönheit und ihr Leben werden trotzdem vergehen. Doch nach dem Ende der Liebe bleibt der Romantiker selbst immer noch am Leben, und muss sich selbst in der größten Verzweiflung nicht mit der eigenen Vergänglichkeit befassen.
Freitag, 16. Februar 2018
Menschlichmögliche Liebe
Der Mensch ist ein aberwitziges Zwischenwesen zwischen einem Tier und einem Gott: er ist gänzlich durch Materie bedingt, doch findet seine wahre Identität nur im Geist, er ist sterblich, doch sein Wesen (transzendentales Ich) lässt sich nur unsterblich denken. Der Mensch lässt sich weder völlig auf Materie reduzieren, und somit seiner Würde berauben und moralisch entlasten, noch kann er darauf bauen, dass die welttranszendenten Gesetze der Vernunft (wie etwa die ewige Glückseligkeit mit der Bedingung der Würdigkeit, ihrer teilhaftig zu werden: das höchste Gut in Kants Moralphilosophie) mit Sicherheit objektiv gültig sind.
Die Liebe des Menschen unterscheidet sich frei nach Weininger in eine männliche Form (romantische Liebe) und eine weibliche Form (Sex), so wie "lieben" einerseits Verehrung bedeuten kann, und andererseits so wie "Ich liebe Lammfleisch!" verstanden werden kann. Wie gesagt, der Mensch ist ein Zwischenwesen. Um diesem Schweben über dem Abgrund zwischen zwei unversöhnlichen Extremen gerecht zu werden, errichtet er mannigfach Luftschlösser, die aus seiner materiellen Bedingtheit und geistigen Freiheit zusammengesetzt sind. Das gemütlichste bisher gebaute Luftschloss ist die Kleinfamilie, das höchste, und an den Turmbau zu Babel erinnernde, ist der Staat.
Auch die Liebe kann sich ein Luftschlösschen bauen, warum nicht mit hängenden Gärten drumrum und dem Gezwitscher der Nachfahren der Dinosaurier auf der einen und dem Gesang unserer willenlosen Geschwister im Geiste auf der anderen Seite des Hiatus. Eine genuin menschliche Form der Liebesbeziehung kann weder romantisch (idealisierend, transzendent) noch sexuell (tierisch, zerstörerisch) sein. Sie kann weder der einen noch der anderen Seite angehören, und doch muss sie unverzichtbare Elemente beider Seiten vereinigen. Von der materiellen Seite erfordert sie eine durch körperliche Schönheit ermöglichte Zärtlichkeit, von der geistigen Seite ein fortwährendes Interesse an der konkreten Person, das nur durch eine Schönheit der Seele hervorgerufen werden kann.
Der andere Mensch ist weder Fickfutter noch Projektionsfläche für das eigene Ich-Ideal, - er ist genauso Mensch wie man selbst, und darf unperfekt sein. Eine verlockend humane Vorstellung, die auf einer sehr instabilen Hängebrücke balanciert, denn die mehresten Beziehungen kippen leicht auf die tierische Seite, und einige, die über einen gewissen Zeitraum ohne Unzucht auskommen, steuern, um die Fleischeslust weiterhin fernzuhalten, auf die keusche und idealisierende romantische Liebe zu.
Dienstag, 13. Februar 2018
Wert und Ego
Es ist nicht nur traurig, von jemandem, den man liebt, verschmäht oder verlassen zu werden, sondern zutiefst erniedrigend, so wie umgekehrt bereits die angenommene (und umso mehr die erwiderte) Liebe das größte Hochgefühl für das Ego ist. Wenn der für einen wertvollste Mensch einen annimmt, fühlt man sich nicht nur wohl, sondern man fühlt auch, dass man etwas wert ist; lehnt die geliebte Person einen ab, kann man sich fühlen, als sei man nichts wert, wenn man kein stabiles autonomes Selbstwertgefühl hat.
Erniedrigung ruft unmittelbar Scham hervor, die neben Schuldgefühlen unerträglichste Empfindung. Um sich davor zu schützen, greift der Leidende gern zu entpersönlichenden Ausdrücken, und beschreibt seinen Zustand der Trauer durch eine medizinische Diagnose. Er macht sich in der Kommunikation mit anderen zu einer Maschine, die an einer Funktionsstörung leidet. Das schützt vor der schmerzhaften Auseinandersetzung mit dem unerfreulichen seelischen Zustand, bestätigt aber auf einer anderen Ebene genau das, was die Scham, vor der die Flucht ergriffen wurde, einem zuflüstert: "Ich bin nichts wert!"
Man bewältigt die Trauer keineswegs, indem man sich - für sich selbst und für andere - zu einer Sache macht. Trauer ist keine Krankheit, und erst recht keine Funktionsstörung, sondern eine höhere Empfindung, zu der nur komplex fühlende Lebewesen in der Lage sind. Trauer entwertet einen nicht, sondern zeigt, dass man grundsätzlich einen Selbstwert hat, der durch die erlebte Ablehnung negiert wird.
Nicht die Intensität der Trauer, sondern die Stärke des Gefühls, nichts wert zu sein, ist ein Gradmesser psychischer Unreife. Auch ein Mensch, der sich selbst genügt, kann durch Ablehnung, durch Verlassenwerden sowie durch den Tod einer - erst recht der - geliebten Person in eine tiefe Trauer stürzen, doch er wird den Schmerz nicht fliehen, sondern aushalten, er wird mit seinem Schicksal hadern, aber nicht sich selbst verfluchen und in Selbstmitleid zerfließen.
Samstag, 10. Februar 2018
Wessen Meinungen sind relevant?
Wenn ein Mensch mit defizitärem Geschmackssinn behauptet, Essen sei wie Ausscheiden ein peinlicher tierischer Vorgang, der nicht mit Genuß und in der Öffentlichkeit, sondern diskret und verborgen vollzogen werden sollte, dann hat seine Ansicht keine objektive Relevanz. Wenn ein Mensch, der seine Sexualität stets gefürchtet und verdrängt hat, anstatt sich mit ihr auseinander-zusetzen, für sexuelle Enthaltsamkeit plädiert, dann will er bloß aus seiner eigenen Beschränktheit eine allgemeine Beschränkung machen.
Wenn ein Feinschmecker, der mit größter Leidenschaft Speisen und Getränke verkostet, und jeden Tag danach giert, etwas neues zu probieren, im allgemeinen keine hohe Meinung von Essen und Trinken hat, dann sind seine Ansichten interessant. Wenn einer, der erotische Gedanken zulässt und durchdenkt, den Trieb in seiner ganzen Bandbreite kennt, und das große Lustversprechen nicht verdrängen, sondern nach hartem Ringen mit sich selbst bewusst abweisen muss, dann ist er befähigt, den Sinn der Enthaltsamkeit anderen beizubringen. Selbstredend kann hier kein Beispiel eines sexuell Aktiven als Berechtigungsgrundlage gegeben werden, so wie man nicht erst zum Mörder werden muss, um sich mit Mordlust bewusst auseinandersetzen zu können.
Der letzte Satz leitet zur Spitze aller Lebensweisheit, der Vernunft selbst, geradezu über: das Beste ist in jedem Fall die vernünftige Erkenntnis, das Begreifen des Wesens einer Sache, denn durch Erfahrung und Induktion kommt man nur zu Wahrscheinlichkeitssätzen, aber zu keinen wahren Erkenntnissen. Da der Nihilist nur den Verstand anerkennt (wenigstens das muss er, um nicht, um Aristoteles zu bemühen, einer Pflanze zu gleichen), bleibt ihm die Vernunfterkenntnis verwehrt, und der Nihilist muss ins Reich der bloßen Meinungen zurückfallen, unter denen er lebensklugerweise die erfahrungsaufgeklärten den bornierten Meinungen vorziehen muss.
Donnerstag, 8. Februar 2018
Investition in die Vergangenheit
Der Suizid eines jungen Erwachsenen ist erschütternd, weil er ein scheinbar sinnloses Wegwerfen des eigenen Lebens - auch als nihilistische Möglichkeit für einen selbst - darstellt. Nicht selten bringen sich Menschen um die 20 selbst um, weil ein Sprung in den Tod nur der bessere Selbstmord ist, als das noch verbleibende Leben: es gibt nämlich Menschen, die, bewusst oder unbewusst, für ihre Eltern leben, oder gar von ihren Eltern gelebt werden. Sie wählen einen bestimmten Lebensweg, um ihre Eltern glücklich zu machen; sie entscheiden sich für einen bestimmten Beruf, um ihre Eltern nicht zu enttäuschen.
Ein von den Eltern bestimmtes - und für die Eltern gelebtes - Leben ist eine Investition in die Vergangenheit, ein Selbstmord ohne Leiche. Man ist im Minus und rennt der Null hinterher: bloß die Eltern nicht enttäuschen! Man lebt, um sein Dasein im Nachhinein zu rechtfertigen. Darum ist es die bessere Lösung, sich gleich umzubringen, anstatt eine Existenz, die nur um ihre Selbstrechtfertigung bemüht ist, rechtfertigen zu müssen. Die ungewöhliche Formulierung am Ende des letzten Satzes soll zeigen, dass eine Existenzrechtfertigung nichts ist, was man in einem bestimmten Alter abschließt, um Frieden mit seinen Eltern schließen und selbstbestimmt leben zu können. Eine erfolgreiche Rechtfertigung des eigenen Daseins erfordert vielmehr eine weitere Rechtfertigung, nämlich eine Rechtfertigung der Rechtfertigung, - und darum scheitert die Selbstrechtfertigung, sobald sie Erfolg hat.
Eine Lösung für die lebenden Selbstmörder besteht darin, zu erkennen, dass sie ihren Eltern nichts schulden, und ihnen erst recht nicht ihr Dasein verdanken. Doch um dies erkennen zu können, muss man zunächst den Mut aufbringen, konsequent darüber nachzudenken, warum einen trotz aller Bemühungen und Erfolge nichts im Leben glücklich macht: die Illuminaten, die Juden, die Außerirdischen sind nicht schuld, es liegt vielmehr an einer psychischen Abhängigkeit von den Eltern, einer nekrophilen Form der Beziehung, in der die Eltern nicht als Menschen, sondern als Götzen erlebt werden, und deren Macht über einen selbst nicht als ein im Dialog relativierbares Verhältnis zwischen Lebenden, sondern als eine starre, zauberhaft-fluchartige Macht eines toten zur Gottheit verklärten Gegenstands.
Dienstag, 6. Februar 2018
Das Tier im Vorteil
Nimmt man den Nihilismus mit all seinen Konsequenzen an (wehrte man sich gegen die logischen Konsequenzen eines Sachverhalts, müsste man - selbst wenn man logisch zurechnungsfähig wäre, aber sich willentlich gegen die Einsicht sträubte - für schwachsinnig erklärt werden), so sieht man leicht ein, dass die tierische Natur im Menschen sogleich die besseren Argumente auf ihrer Seite hat, nur noch die Lust als ein Imperativ bestehen kann, und alles Moralische sich ohne den Bezug auf Transzendenz (mit welcher Gott, das höchste moralische Wesen, nur angedeutet, aber die Willensfreiheit und Persönlichkeitswürde des Menschen im Konkreten ausgedrückt sind) als bloße Eitelkeit erweist.
Das Tierische im Menschen braucht seine Existenz nicht zu rechtfertigen, es war schon immer da, und bestimmt die Empfindungen eines jeden, so lange er auf der Welt ist. Die Anlage zur Menschheit und Persönlichkeit, Freiheit und Würde ist nichts als Spekulation, die nur im Reich der Ideen einen festen Standpunkt hat, und bedeutungslos wird, sobald das Reich der Ideen für nichtig erklärt wird. Es ist somit keineswegs der Ausdruck eines niederen Charakters, den Nihilismus als Einladung zu einem amoralischen und lustfixierten Leben zu sehen, sondern eine ehrliche logische Konsequenz des Nihilismus.
Freitag, 2. Februar 2018
Gewalt in der Familie
Wer seine Kinder schlägt, passt bei aller Strenge des Urteils in das Weltbild des Ottonormal-beobachters hinein, wer aber seine Eltern schlägt, sprengt die Grenzen des Gewöhnlichen. Dabei sind es Erwachsene, die nicht selten eine einer körperlichen Züchtigung würdige Verhaltensweise an den Tag legen, während Kinder für ihren Leichtsinn oder ihre Verfehlungen aus Unwissenheit nicht wirklich für schuldig befunden werden können. Doch wer seine Eltern schlägt, stellt gleichsam seine eigene Existenz in Frage, denn der Ottonormalfeigling bleibt im Grunde für immer auf sinngebende Bezugspersonen angewiesen, und ist selbst nicht in der Lage, seinem Leben Sinn und Struktur zu geben.
Es gibt durchaus 50-Jährige, deren Eltern zwar tot sind, die aber nichtsdestotrotz bei Lichte besehen dafür leben, ihre Eltern stolz zu machen, worauf die Lebensleistung vieler Menschen im Endeffekt hinaus läuft. Man macht lieber einen grausamen Vater stolz, als sich von ihm loszusagen; man achtet darauf, die Gefühle einer missbrauchenden Mutter nicht zu verletzten, anstatt sie auf den Müllhaufen der Biographie zu werfen. Doch ungeachtet dieser Extremfälle wird auch jede normale Familie über die Pubertät der Kinder hinaus nur aus der Angst der Kinder vor dem Leben, vor dem Sinn, vor der Selbstverantwortlichkeit zusammen gehalten, so dass sich jene am glücklichsten schätzen, die die Fehler ihrer Eltern am exaktesten wiederholen.
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