Donnerstag, 8. Februar 2018
Investition in die Vergangenheit
Der Suizid eines jungen Erwachsenen ist erschütternd, weil er ein scheinbar sinnloses Wegwerfen des eigenen Lebens - auch als nihilistische Möglichkeit für einen selbst - darstellt. Nicht selten bringen sich Menschen um die 20 selbst um, weil ein Sprung in den Tod nur der bessere Selbstmord ist, als das noch verbleibende Leben: es gibt nämlich Menschen, die, bewusst oder unbewusst, für ihre Eltern leben, oder gar von ihren Eltern gelebt werden. Sie wählen einen bestimmten Lebensweg, um ihre Eltern glücklich zu machen; sie entscheiden sich für einen bestimmten Beruf, um ihre Eltern nicht zu enttäuschen.
Ein von den Eltern bestimmtes - und für die Eltern gelebtes - Leben ist eine Investition in die Vergangenheit, ein Selbstmord ohne Leiche. Man ist im Minus und rennt der Null hinterher: bloß die Eltern nicht enttäuschen! Man lebt, um sein Dasein im Nachhinein zu rechtfertigen. Darum ist es die bessere Lösung, sich gleich umzubringen, anstatt eine Existenz, die nur um ihre Selbstrechtfertigung bemüht ist, rechtfertigen zu müssen. Die ungewöhliche Formulierung am Ende des letzten Satzes soll zeigen, dass eine Existenzrechtfertigung nichts ist, was man in einem bestimmten Alter abschließt, um Frieden mit seinen Eltern schließen und selbstbestimmt leben zu können. Eine erfolgreiche Rechtfertigung des eigenen Daseins erfordert vielmehr eine weitere Rechtfertigung, nämlich eine Rechtfertigung der Rechtfertigung, - und darum scheitert die Selbstrechtfertigung, sobald sie Erfolg hat.
Eine Lösung für die lebenden Selbstmörder besteht darin, zu erkennen, dass sie ihren Eltern nichts schulden, und ihnen erst recht nicht ihr Dasein verdanken. Doch um dies erkennen zu können, muss man zunächst den Mut aufbringen, konsequent darüber nachzudenken, warum einen trotz aller Bemühungen und Erfolge nichts im Leben glücklich macht: die Illuminaten, die Juden, die Außerirdischen sind nicht schuld, es liegt vielmehr an einer psychischen Abhängigkeit von den Eltern, einer nekrophilen Form der Beziehung, in der die Eltern nicht als Menschen, sondern als Götzen erlebt werden, und deren Macht über einen selbst nicht als ein im Dialog relativierbares Verhältnis zwischen Lebenden, sondern als eine starre, zauberhaft-fluchartige Macht eines toten zur Gottheit verklärten Gegenstands.