Mittwoch, 20. September 2023

MGTOW-Narrative V: Zeugungsstreik

 

 

 

Es ist für vernünftige Menschen nicht mehr möglich, Kinder in diese Welt zu setzen!



Ein Narrativ, aus dem eine tiefe Weisheit spricht, und das trotz aller Widerlegungen durch Aufklärer wie Steven Pinker und Hans Rosling hartnäckig bestehen bleibt. Diese Aufklärer haben recht: wir leben in der besten Welt, die es jemals gab, und sie wird Jahr für Jahr besser! Falls du also willst, dass deine Kinder es besser haben als du es als Kind hattest, dann kannst du seit 75 Jahren nonstop Kinder in die Welt setzen. Und doch sagt dir die Intuition, die sich in diesem Narrativ ausdrückt, dass es nie falscher war als heute.

Wenn es im Leben darum geht, möglichst viele Sorten Wurst und Käse zu probieren, möglichst viele Länder als Tourist zu bereisen, möglichst viel Spaß zu haben, und dabei materiell und gesundheitlich gut zu leben, dann leben wir in einer so guten Welt, dass es uns durchaus wundern müsste, warum wir immer weniger Kinder haben. Nur noch dort, wo das Leben immer noch hart ist, haben die Menschen viele Kinder. Es geht dabei auch um die Altersvorsorge der Eltern, aber nicht nur darum.

Es ist zwar besser, materielle Güter zu besitzen als arm zu sein, aber nur für den, der schon lebt. Keiner würde ein Kind zeugen, damit dieses Kind reich ist und Spaß im Leben hat. Im Gegenteil: wenn dein Sohn voraussichtlich ein verwöhnter undankbarer Ochse wird, zeugst du lieber keinen Sohn. Wenn deine Tochter eine Schlampe wird, dann zeugst du besser keine Tochter. Das sprechen wir nicht aus, aber so handeln wir. Und wir bewundern nicht solche Eltern, die ihren Kindern den Arsch mit teuerstem Spielzeug vollstopfen, sondern solche, die es schaffen, dass aus ihren Kindern in einer narzisstischen und ultradekadenten Überflussgesellschaft anständige Menschen werden.

Für die Zeugung eines neuen Lebens sind nicht materielle Güter, sondern ein moralisches Gut entscheidend: wir wollen, dass unsere Kinder nicht bloß glücklich, sondern gut werden. Die Seele des Menschen lebt vom moralisch Guten, nur der Körper kann von Brot und Spielen leben. Wenn wir uns Sorgen um die Seelen unserer noch ungeborenen Kinder machen, dann wollen wir in einem Zeitalter wie diesem nicht, dass sie diese Welt betreten. Egal was wir (als aufgeklärte Atheisten) zu denken glauben, wir handeln so, als wären wir religiöse Fundamentalisten, und zwar indem wir in Sodom und Gomorrha kinderlos bleiben.

Montag, 18. September 2023

MGTOW-Narrative IV: Araberbarbaren

 

 

 

Die ausländischen Männer (insbesondere die aus islamischen Ländern) nehmen uns unsere Frauen weg!



Stell dir vor, du wärest ein junger Mann in einem islamischen Land. Wenn du nicht aus einer reichen oder mächtigen Familie kommst, blüht dir keine schöne Frau, selbst nach der Heirat nicht: du wirst bestenfalls mit einer mittelmäßigen oder unattraktiven Frau in einer arrangierten Ehe verheiratet. Viele junge Männer in islamischen Ländern gehen davon aus, dass sie erst im nächsten Leben eine Frau bekommen. Eine? Warum nicht gleich 72, als Märtyrer... Aber das ist ein anderes Narrativ.

Nun kommt ein junger Mann aus einem islamischen Land in den ultradekadenten Westen. Sofort fällt ihm auf, wie promiskuitiv die Frauen sind. Er kann eine attraktive Frau haben, und muss sie nicht mal heiraten! Dafür muss er sich nur gegen die verweichlichten westlichen Männer durchsetzen. Nichts leichter als das. Natürlich ist die promiskuitive "Freundin" für den muslimischen Mann eine Schlampe, und er wird, wenn er sich ausgetobt hat, eine vernünftige Muslima heiraten. Westliche Bitches sind nur Fickfleisch, diese Drecksnutten! Das ist seine natürliche Wahrnehmung der unnatürlichen Situation, in der er sich befindet.

Eine junge westeuropäische Frau sieht einen jungen Mann aus einem islamischen Land: ein echter Mann! Er winselt nicht vor ihr, er fordert Respekt. Er hat keine Angst vor körperlicher Gewalt: sein Vater würde ihn härter schlagen als sein europäischer Konkurrent. Er hat einen starken Sexualtrieb, ist nicht durch schlaraffenländisches Aufwachsen geschwächt. Er weiß, was er will, und zeigt es. Er hat Werte und strahlt das aus. Er ist halt männlicher als der westliche Loser. Er nimmt diesem also die Frau nicht weg, die Frau entscheidet sich freiwillig für ihn.

Die Einwanderer machen nichts falsch, der Fehler liegt in unserer Kultur, und zwar in ihrem Zustand der Ultradekadenz. Wenn einer jungen Frau aus allen Propagandaröhren erzählt wird, Hässlich sei das neue Schön, und Selbstzerstörung sei Emanzipation, und das Aufgeben ihrer Weiblichkeit sei der Weg in die Unabhängigkeit; Reinheit, Anstand und Güte seien aber der Weg in die Unterdrückung, dann wird sie nunmal eine hasserfüllte Drecksschampe. 

Junge Männer, die mit solchen Frauen aufwachsen, verlieren die Motivation, etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie wollen mit Frauen nichts mehr zu tun haben und werden MGTOW. Und wenn sich der Sexualtrieb doch wieder meldet, oder die Einsamkeit unerträgich wird, dann ist der "schwarze Mann" schuld: ein fremder Fisch ist in unserem Teich! Dass der Teich längst umgekippt ist, merkt der Fisch nicht, weil er in diesem Dreckswasser aufgewachsen ist.

MGTOW-Narrative III: Sexleben

 

 

Wer keinen geilen Sex hat, verpasst das Wichtigste im Leben.




Wenn du, Incel, bei deiner Mutter im Keller verpixelte Pornos guckst, oder du, MGTOW, von einem guten oder zumindest einträglichen Job allein und zufrieden lebend, auf einem großen Flachbildschirm in guter Auflösung Pornos guckst, dann kultiviert ihr beide die Anspruchshaltung, ein sogenannter Blowjob gehöre zu einem erfüllten Sexleben dazu. Und da Sex das Wichtigste im Leben ist, gehören die Frequenz und Qualität der BJs zu den wichtigsten Gradmessern für Glück.

Erstens ist Sex nicht das Wichtigste im Leben, das wirst du schon sehen, wenn du genug "geilen" Sex gehabt hast. Sex wird dich schneller langweilen als du denkst. Gehörst du zu den acht intuitiven (nicht sensorischen) Persönlichkeitstypen (immerhin ein Drittel der Bevölkerung), kannst du dir sogar ohne Erfahrung intuitiv oder intellektuell erschließen, dass Sex nicht so geil ist wie du denkst.

Und es ist besser, diese Erfahrung nicht zu machen! Die Weisheit der Jahrtausende, dass Sex ausschließlich in die Ehe (oder Quasi-Ehe) gehört, lässt sich durch ein paar Jahrzehnte der Ultradekadenz nicht widerlegen. Promiskuität erhöht die Gefahr von sexuell übertragbaren Krankheiten und führt mit Sicherheit zu psychischen Störungen. Rumhuren ist nicht natürlich, Rumvögeln ist nicht normal, der Mensch ist kein Bonobo, und überhaupt kein Affe.

Was den Oralsex betrifft, handelt es sich dabei um eine ultradekadente Perversion. Die Pornoindustrie ist schnellebig, sie produziert viele billige Filme, die von den meisten Konsumenten nur einmal zu Masturbationszwecken geschaut werden. Das junge hübsche weibliche Gesicht ist ein Blickfänger, die genitalen Dreckslöcher wird sich kein Mensch minutenlang angucken. Also lutscht in jedem Porno die Frau dem Mann den Schwanz. Dadurch entsteht bei dem (leider oft jungen, gar kindlichen) Konsumenten den Eindruck, Oralsex wäre normal. Falls du das aber denkst, bist du böse verarscht worden. Ich sag dir, was normal ist.

Normal ist, das schöne weibliche Gesicht als Sinnbild der Liebe und Schönheit überhaupt wahrzunehmen. Das Gesicht der jungen Frau ist in seiner kindlichen Unschuld eine Quelle spontanen Glücks, von guter Laune durch einen verspielten freundlichen Blick bis zur leidenschaftlichen romantischen Liebe. Allein die Blicknuancen geben ein ganzes Universum an Eindrücken her, und dann noch dieser mit zauberhafter Stimme sprechende Mund...

Aber nein, du willst sehen, wie Drecksschwanzsperma das weibliche Gesicht runterläuft, nicht wie die an Klängen und Bedeutungen unendlich reiche Sprache, sondern wie der monotone erigierte Penis ihre Lippen verlässt, wie die Schwanzwurst hundertmal ihr Gesicht vergewaltigt, bevor sich der Drecksschwanz alibimäßig dem Vaginal- oder dem Analloch zuwenden kann, um dann in einem Triumph der Hässlichkeit auf ihr Gesicht abzuspritzen.

Montag, 21. August 2023

MGTOW-Narrative II: Incels

 

 

 

Du bist unattraktiv für Frauen, weil du schüchtern oder klein oder arm oder schwarz oder Inder bist oder schwul aussiehst.



All das wird zusammengefasst zu den Incels (involuntary celibates). Im Gegensatz zu den MGTOW wollen die Incels Beziehungen eingehen, aber Frauen wollen sie nicht. Die MGTOW grenzen sich auch stolz von den Incels ab, und geben sich ordentlich Mühe, zu beweisen, dass sie wirklich nicht wollen. Aber Gelegenheit macht Triebe. Erst wer die Möglichkeit hat, weibliches Interesse zurückzuweisen, ist überhaupt in der Lage, herauszufinden, ob er ein echter MGTOW oder "nur" ein Incel ist. Da auch die meisten MGTOW diese Möglichkeit nicht haben (durch vorauseilende Selbstisolation), existiert der Unterschied zwischen MGTOW und Incels nur formal.

Überraschung: viele Frauen mögen schüchterne Männer. Es gibt also keine shycels. Bei Körpergröße sind Frauen nur in der Theorie (oder in künstlichen Ultrakonkurrenz-Biotopen wie Tinder) sehr wählerisch, ansonsten kommen auch die kurzen Männer nicht zu kurz. Aber die Incels unter six feet tall nennen sich shortcels. Geld spielt zwar immer eine Rolle, aber ist es nicht so, dass die Incels besonders wütend werden, wenn sie von armen ausländischen Männern (fuckboys) ausgestochen werden? Doch arme Incels nennen sich poorcels. Es gibt Rassismus, aber es ist auch Tatsache, dass schwarze Männer von allen "Rassen" neben Weißen am attraktivsten sind. Es gibt also auch keine blackcels. Und die Inder? Ja, südasatische Männer haben besonders in den USA, wo alle Ethnien vertreten sind, und um die weißen Frauen konkurrieren (die meisten US-Amerikaner sind immer noch weiß), durchaus das Nachsehen. Aber wiederum befinden sich ethnocels in einer künstlich hergestellten Ultrakonkurrenz-Situation. Was ist mit "schwul aussehenden" Männern? Kommen sie automatisch immer in die friendzone? Allein dieses toxische Wort ist unausstehlich, weil es Freundschaft zwischen den Geschlechtern vergiftet. Wenn schwule Männer für Frauen oft besonders attraktiv aussehen, ist der Begriff gaycel doch ein Selbstwiderspruch.

Wo ist also, verflucht nochmal, das Problem? Warum kriegen manche keine ab? Weil sie unattraktiv sind. Aber nie aus einem einzigen Grund. Wer krank, entstellt, behindert oder hässlich von Natur ist, der hat wahrlich mit seinem Schicksal zu hadern: auch diese Menschen haben ein Bedürfnis nach Zweisamkeit, Paarbeziehung und Sex. Und wer regt sich darüber auf, dass solche Menschen automatisch nie als Partner in Betracht kommen? Incel, check your privilege!

Bevor ich die MGTOW und die Incels überhaupt kannte, in meinen frühen 20-ern, hatte ich das gleiche Problem. Keine Frau wollte mich! Ein Skandal, aber keine von diesen Frauen, deren Körper wie mit Photoshop bearbeitet und deren Gesichter wie mit morphthing.com perfektioniert aussahen, ging jemals auf mich zu und fragte mich nach einem Date! Und ich tat so, als würde ich das Offensichtliche nicht sehen: ich wollte entweder perfekte Schönheit oder nichts. In meinen späten 20-ern war mir Nichts schließlich gut genug, ich war Mystiker und Eremit. Ich dachte einfach, dass eine schöne Frau später (nach dem Tod) ein Teil jener Glückseligkeit sein würde, deren Würdigkeit jetzt (in diesem Leben) zu beweisen war. Ich musste einfach ein Leben lang warten, das ist alles. Problem gelöst.

Dann kamen die MGTOW-Youtuber, und ich fand es als Weiningerianer einfach angenehm, jemanden so wie ich selbst mit 23 reden zu hören. Herrlich depressivistisch, nihilistisch, und nur bei übertriebenem Selbstmitleid schaltete ich weg. Weil ich keine Chance auf eine Schönheitsprinzessin hatte, beschloss ich, dieses Leben allein zu verbringen. Wohlgemerkt, wollte ich nicht einmal eine Chance (mit der einherginge, etwas dafür zu tun), ich wollte, dass sie mich selbst aufsucht, weil sie (die schönste vorstellbare Frau) mich um meiner selbst willen liebt. So hoch waren meine Ansprüche. Damit ging aber keine Anspruchshaltung einher: ich dachte nicht, dass die Welt oder Gott mir dieses Glück schuldig sei. Es war nur so, dass ich als perfektionistischer Leistungsmensch dachte, dass es wenigstens in der Liebe nicht um Leistung gehen sollte, sondern um ein bedingungsloses Geschenk.

Was die Incels angeht: die Anspruchshaltung ist das Problem, selbst bei bescheidenen Ansprüchen. Sobald du denkst, dass das, was du begehrst, dir geschuldet wird, bist du auf einem Irrweg. Und mit der Bescheidenheit der Ansprüche wird die Anspruchshaltung nicht gerechtfertigt, sie wird damit nur entschuldigt. Wenn nun etwas zu hohe Ansprüche zu einer grundsätzlichen Anspruchshaltung (bei Nichterfüllung: Opfermentalität) dazukommen, entsteht immer Misserfolg. Nicht die anderen oder die Umstände sind schuld, sondern die Schuldsuche bei den Umständen oder den anderen.

MGTOW-Narrative I: Huren

 

 

 

Alle Frauen sind Huren.



Das ist ein Narrativ, das sich am liebsten als wissenschaftliche Erkenntnis aus der Evolutionsbiologie präsentiert. Vertreten wird es vom libertär-rechten Spektrum, und dort insbesondere von der manosphere, der libertären Männerbewegung, zu welcher lose Gruppen wie MGTOW (men going their own way), Incels (involuntary celibates) und Pick Up Artists (Aufreißer) gehören. Das wäre alles halb so relevant, wenn das schon alles wäre.

Wenn ein MGTOW-Youtuber nämlich kategorisch und explizit: "Alle Frauen sind Huren!" ruft, dann spricht er damit nur laut aus, was ohnehin alle denken. Nur dass die Narren der Gesellschaft sich trauen, das so explizit auszusprechen. Alle anderen denken: "Alle Frauen sind Huren", leise und traurig, als wäre das nunmal eine unvermeidliche Tatsache des Lebens. Männer denken das, weil Frauen nunmal so sind, und Frauen denken das von sich, weil das Leben nunmal so ist.

In diesem impliziten Glauben werden Mädchen erzogen, und damit auf Egoismus und Materialismus abgerichtet. So wird aus einem Narrativ ein Imperativ: bist du keine Hure, dann bist du keine richtige Frau. Es ist wie mit dem feministischen Narrativ "Alle Männer sind Vergewaltiger": letztlich sagt es jungen Männern, dass du kein Mann bist, wenn du kein Vergewaltiger bist.

Das Metanarrativ, das den stillschweigenden und nur von Narren laut ausgesprochenen Glauben an so einen Unsinn ermöglicht, heißt: "Der Mensch ist schlecht". Weil es auch zur weiblichen Natur gehört, schwanger zu werden und zumindest zeitweise einen männlichen Versorger zu brauchen, wird die Frau zum Parasiten des Mannes erklärt. In Wirklichkeit sind es nur kranke und kaputte Frauen, die sich nur für Geld an einen Mann binden. Keine Frau träumt von einem Mann, der nur Millionär ist, aber es ist natürlich vorteilhaft, wenn der Traummann auch Millionär ist.

Donnerstag, 3. August 2023

Rechte Narrative VII: Argumente

 

 

 

 

Nein, Narrative sind keine Argumente. Am politischen Stammtisch gilt: Wer argumentiert, verliert. Auch Totschlagargumente sind Argumente, und damit angreifbar. Unangreifbar sind Narrative. Auf ein Narrativ zurückzugreifen ist Framing. Wer ein Narrativ durchsetzen kann, setzt den Rahmen des Diskurses.

Wer die Flüchtlingsdiskussion auf das Narrativ "Das Boot ist voll" framet, zwingt den Opponenten, im Zusammenhang mit begrenzten Ressourcen und Aufnahmekapazitäten zu argumentieren. Das eigene Narrativ ist ein Heimspiel, der Gegner muss ein Gastspiel bestreiten.

Wer aus einer Position der Stärke sprechen kann, kann seine Narrative automatisch durchsetzen bzw. so tun, als wären sie bereits gültig. Der Gegner muss nicht nur argumentieren, sondern gegen ein Narrativ ankämpfen, das die Gegenargumente durch seine Struktur verzerrt. Ein Narrativ begünstigt Argumente, die nicht in einer kognitiven Dissonanz zu ihm stehen.

Ob in rechten, fundamentalistischen oder feministischen Kreisen: überall, wo es ein Set von etablierten Narrativen gibt, dringen die Argumente der Kritiker nicht mehr durch. Es ist so leicht, entlang der eigenen Narrative zu argumentieren, dass selbst der Denkfaulste im eigenen Frame automatisch recht behält.

Das Durchsetzen von Narrativen ist kommunikative Gewalt. Das ist das Gegenteil von intellektueller Redlichkeit bzw. eines "herrschaftsfreien Diskurses" nach Habermas. Selbst wenn alle Argumente innerhalb des eigenen Narrativs für sich genommen gültig sind, sind sie durch das Narrativ privilegiert und damit auf einer höheren Ebene unwahr.

Rechte Narrative VI: Diktatur

 

 

 

 

Wir lassen uns unsere Freiheit nicht nehmen!


Welche Freiheit? Die politische Freiheit, alle vier Jahre zu einer Bundestagswahl zu gehen, die jedesmal zu (mit Nuancen) denselben Koalitionen führt? Die ökonomische Freiheit, in einem kapitalistischen Arbeitsmarkt unter dem Primat der Gewinnmaximierung für die Bosse sich ausbeuten zu lassen? Ach ja, die Freiheit, in einer Pandemie ungeimpft und ohne Maske in die Kneipe zu gehen!

Wer nicht zu denen gehört, die durch ihre Kontrolle über die Wirtschaft die Politik bestimmen, hat nur negative politische Freiheiten: er wird nicht verhaftet, wenn er offen seine Meinung ausspricht, nicht gezwungen, im Land zu bleiben, wenn er es aus privaten oder ökonomischen Gründen verlassen will. Diese Freiheiten sind so selbstverständlich, dass es um sie in der Diktatur-Polemik grundsätzlich nicht geht.

Impfpass, Maske? Corona-Diktatur! Tempolimit? Freie Fahrt für freie Bürger! Sexualkundeunterricht? Keine staatlich verordnete Frühsexualisierung! Oder wir leben in einer Diktatur, das wird man wohl noch sagen dürfen.

Übrigens sind das, was die um ihre Freiheit Besorgten für Freiheitsrechte halten, erstens Privilegien, und zweitens selten welche, die sie selber haben. Theoretisch hat jeder die Freiheit, mit der eigenen Yacht die Weltmeere zu durchkreuzen, den eigenen Helicopter im Garten seiner Villa zu landen und seine Kinder in eine private Eliteschule zu schicken. Und praktisch gibt es Freiheitskrümmel wie die Möglichkeit, eine Protestpartei zu wählen, zu einer Anti-LGBT-Kundgebung zu gehen und einmal in der Woche für 15 Minuten mit 200 km/h über die Autobahn zu brettern.

Ein starkes Narrativ funktioniert so, dass ein großes Wort mit unendlichem Interpretationsspielraum, das idealerweise einen Wert bezeichnet, in seiner edelsten Bedeutung ausgesprochen wird, um beliebige moralisch fragwürdige Bedeutungen mitzutransportieren. Wenn deine Freiheit die Unfreiheit eines anderen bedeutet, verteidigst du nicht deine Freiheit, sondern dein Privileg. Fordert man dich auf, anderen dieselbe Freiheit zuzugestehen, die du dir selbst herausnimmst, wähnst du dich in einer Diktatur, die deine Freiheit einschränkt.

Rechte Narrative V: Frauenfussball

 

 

 

 

Fussball ist ein Männersport.


Als ich vor über 20 Jahren im englischsprachigen Teenchat einen Teenager aus den USA nach seinem Lieblingsfussballspieler fragte, nannte er eine Frau. Das erstaunte mich, aber ich erfuhr später, dass Fussball in den USA eher von den Mädchen gespielt wird, und die Jungen American Football spielen, was sich dann auf den professionellen Sport auswirkt. Der US-Amerikaner würde also schonmal über dieses Narrativ lachen und erwidern: "Bei uns ist Fussball Frauensport".

Es heißt oft, der Frauenfussball sei langweilig (zu wenige Fouls), langsam (Frauen rennen nicht so schnell), und sollte eigentlich gar nicht existieren. Dass Frauen körperlich schwächer als Männer sind, spricht aber den meisten anderen Sportarten, wo Frauen gegen Frauen antreten, die Legitimation nicht ab. Tennisspielende Frauen sind eine Selbstverständlichkeit, und da ich Männertennis und Frauentennis gleich selten schaue, erinnere ich mich noch gut an ein Spiel vor 20 Jahren, bei dem die Außenseiterin Shinobu Asagoe gegen die Favoritin Daniela Hantuchová mit viel Fleiß und Hingabe gewann. Der Siegeswille der Japanerin ließ mich mit ihr mitfiebern und nicht den Sender umschalten, bis das Spiel vorbei war.

Männerfussball ist kein großer Sport, sondern ein großes Spektakel. Aufgrund seiner Geschichte, die nicht aus dem Wert des Fussballsports heraus notwendig, sondern kontingent war, wurde er zur globalen Sportart Nr. 1 und zum Milliardengeschäft. Angesichts dessen "stört" der Frauenfussball: die Fussballorganisationen und die TV-Sender, die eine Infrastruktur um den Männerfussball aufgebaut haben, wollen ihren Vorrang in der Aufmerksamkeitsökonomie nicht aufgeben. Und der Zuschauer ist ein Gewohnheitstier.

Dass Deutschland bei der laufenden Fussball-WM zum ersten Mal in der Gruppenphase ausgeschieden ist, zeigt, wie weit sich der Frauenfussball weltweit entwickelt hat. Für die einstigen Dauersiegerinnen ist eine WM kein Selbstläufer mehr. Die Konkurrenz wird größer und die Turniere spannender. Mit steigendem Interesse des Publikums erhöhen sich die Preis- und Fernsehgelder, damit auch die Gehälter, und der Frauenfussball wird, wie der Männerfussball, immer athletischer und professioneller.

Mittwoch, 2. August 2023

Rechte Narrative IV: Biologismen

 

 

 

 

Es gibt nur Männer und Frauen! Wer damit nicht einverstanden ist, ist kein richtiger Mann! Ich bin kein Rassist, aber es ist doch klar, dass sich die Rassen unterscheiden! Man wird die Unterschiede doch wohl benennen dürfen! Intelligenz ist erblich, also...


Zu wissen, wie die geschlechtliche Fortpflanzung funktioniert, ist Biologie. Daraus Werte und Normen für "richtige" Männer und Frauen abzuleiten, ist Biologismus.

Die subjektive Erfahrung bezüglich eigener Geschlechtsidentität kann durch äußere normative Zuschreibungen nicht widerlegt werden. Die Erste-Person-Perspektive zu leugnen bedeutet, zu dehumanisieren. Neben "männlich" und "weiblich" gibt es sehr wohl auch "divers".

Die wissenschaftliche (nicht populäre) Biologie hat mithilfe der Genetik die Abstammung des Menschen zurückverfolgen können. Es gab eine Zeit, in der alle Homo sapiens schwarz waren. Die Hautfarbe (Pigmentation) ist eine evolutionsbiologische Anpassung an bestimmte Umweltverhältnisse. Allein aus der Hautfarbe kulturelle oder sogar die Persönlichkeit eines Menschen betreffende Schlüsse zu ziehen, ist rassistisch.

Es gibt, wissenschaftlich gesehen, keine Menschenrassen, sondern nur Populationen, die, bei längerer Anpassung an bestimmte Umwelten und bei Endogamie auf Populationsebene gemeinsame Erscheinungsmerkmale zeigen, die sie von anderen Populationen unterscheiden. Bei globaler Exogamie verschwinden allmählich auch diese Unterschiede.

Man mag es gut oder schade finden, dass es bald keine "echten" Schweden oder Senegalesen mehr gibt, aber letztlich ist unser Bild davon, wie ein "echter" Nordeuropäer oder Westafrikaner auszusehen hat, nur Gewohnheit. Es gibt nicht den Schweden an sich, es gibt keine platonische Idee des Schweden.

Intelligenz wird vererbt, aber auch Umweltfaktoren spielen eine große Rolle. Außerdem gibt es bei der Erblichkeit von Intelligenz eine Regression zum Mittelwert, sodass die Kinder von Genies nicht noch intelligenter werden, sondern eher zum Mittelwert der Population tendieren. Durchschnittliche IQ-Werte von Populationen kommen durch langfristige soziobiologische Selektion zustande. Kulturen, in denen intellektuelle Tätigkeiten zum Fortpflanzungserfolg führen, bringen intelligentere Populationen hervor. 

An Krieg oder Jagd angepasste Kulturen kultiveren andere Formen der Intelligenz als die, die mit dem IQ gemessen wird: emotionale Intelligenz (da die Fähigkeit zur kognitven Empathie in einer Kultur der physischen Konkurrenz ber Leben und Tod entscheiden kann), Intuition und Geschicklichkeit (dass ein ungeschickter Mensch als "Bewegungsidiot" bezeichnet wird, zeigt, dass es sich auch hier um eine Form von Intelligenz handelt).

Rechte Narrative III: Selbstverantwortung

 

 

 

 

Jeder ist seines Schicksals Schmied. Jeder ist durch seine Entscheidungen für die Ergebnisse in seinem Leben verantwortlich. Es ist allein deine Schuld, wenn du als Loser oder Penner endest. Wer die Gesellschaft, die Politik oder das Schicksal für sein Scheitern im Leben verantwortlich macht, sucht nur nach Ausreden!


Hier handelt es sich um eine Aussage, die, für sich genommen, wahr ist, aber als politisches Narrativ falsch. Aus religiöser und spiritueller Perspektive bist du nicht nur für die Konsequenzen deiner Handlungen verantwortlich, sondern auch für die Lebensumstände, in die du hineingeboren wurdest: theistisch betrachtet, hat dir Gott genau das Leben gegeben, das er in seiner unendlichen Weisheit für dich ausgesucht hat; dharmisch gesehen, wurden die Umstände deiner Geburt, einschließlich Erbkrankheiten und Behinderungen, von deinem Karma bestimmt.

Wendet man diese Aussage auf die sozioökonomischen Verhältnisse an, dann sagt man im Grunde, dass jeder, der halbwegs lesen und schreiben kann, Jura, BWL und Informatik studieren soll, und sich nicht später über Altersarmut beschweren, wenn er eine Geisteswissenschaft studiert oder eine brotlose Kunst erlernt hat. Noch konsequenter gedacht, bedeutet das wirtschaftlich rechte (neoliberale) Narrativ der Eigenverantwortung, dass die Gesellschaft eine Kampfarena konkurrierender Individualisten ist, und weiter nichts. Familie, Bildung, Religion, Kunst: all das ist nur dann relevant, wenn es dem egoistischen Homo oeconomicus nützt, ansonsten ist eine Entscheidung für die Familie zulasten der Karriere eine falsche Entscheidung und die Altersarmut infolge einer Scheidung die gerechte Konsequenz.

Eine neoliberale Robinsonade funktioniert nur, wenn das Leben als ein ökonomisches Ego-Shooter-Spiel verstanden wird, und die Mitspieler als NPCs (non-player characters). Allein schon die Existenz anderer als Personen, nicht bloße Objekte, sprengt den Solipsismus und somit den Primat des individuellen ökonomischen Erfolgs. Es gibt menschliche Beziehungen, es gibt Liebe, Leidenschaft, Talent, Berufung, Idealismus: vieles davon kann im echten Leben (Vorsicht: das "echte Leben" ist ein oft verwendetes rechtes Narrativ, und zwar im Kontext des Antiintellektualismus) Vorrang vor dem ökonomischen Erfolg haben, und zwar nicht, weil jemand ein Dummkopf, ein Wahnsinniger oder ein Loser ist, sondern weil er ein Mensch ist.

Ökonomische Formationen wie der Kapitalismus sind real und haben mehr Macht über die menschlichen Lebensverhältnisse als individuelle Entscheidungen. Eine Gesellschaft mit dem Primat der Wirtschaft zerstört oft die Möglichkeit, ein sinnvolles Leben zu führen. Das Narrativ der Selbstverantwortung ist selbst eine Ausrede, und zwar um über Privilegien, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten hinwegzusehen.

Rechte Narrative II: Gutmenschen

 

 

 

 

Diese linksgrünversifften Gutmenschen mit ihrem naiven Weltbild!


Von oben betrachtet, ist es so, dass die Zuschreibung, ein Mensch oder eine Menschengruppe sei böse, meistens einer Projektion entspringt. Was man an sich selbst hasst, projiziert man auf andere. Für einen Edelmann versteht sich grundsätzliches Wohlwollen von selbst; Gutgläubigkeit und echtes Interesse an anderen Menschen unterscheiden eine Frau von Wert von einer selbstsüchtigen Narzisstin.

Objektiv gesehen, wissenschaftlich, spricht vieles dafür, dass nicht die Konkurrenz, sondern die Kooperation für zwischenmenschliche Interaktionen entscheidend ist. Hilfsbereitschaft und Wohlwollen werden unterschätzt, weil das Negative mehr ins Gewicht fällt als das Positive: eine schlechte Tat wird erst durch zehn gute Taten gleicher Größenordnung ausgeglichen, so ist unsere Wahrnehmung. Weil wir das Gute für selbstverständlich halten, konzentrieren wir uns auf das Schlechte. Je mehr schlechte Erfahrungen mit Mitmenschen einer gemacht hat, umso höher ist das Missverhältnis zwischen dem Guten und dem Schlechten in der Wahrnehmung anderer. Verbitterte Menschen nehmen das Gute an anderen gar nicht mehr wahr und sehen nur das Schlechte.

Natürlich gibt es auch diese scheinheiligen Heuchler, doch diese sind alles andere als naiv: als "Gutmenschen" mich als rassistisch, sexistisch usw. bezeichneten, meinten sie eigentlich: "Du gehörst nicht dazu". Mein moralischer Wert war ihnen in Wirklichkeit egal. Sie wollten ihre Fremdenfeindlichkeit mir gegenüber moralisch begründen, um weiterhin fremdenfeindlich sein zu können, aber sich nicht als schlechte Menschen fühlen zu müssen.

Der Mensch will sich als guter Mensch fühlen. Es ist leichter, vorzutäuschen, man sei ein guter Mensch (virtue signalling), als wirklich ein guter Mensch zu sein. Aber wir sollten nicht das Wichtigste dabei ignorieren: weder ist das Gute den meisten egal noch wollen sie als "Arschlöcher" gesehen werden. Das bedeutet nichts weniger, als dass die guten Absichten tatsächlich vorhanden sind, und wenn die Taten mit den hehren Worten nicht übereinstimmen, dann liegt es in den wenigsten Fällen an absichtlicher Täuschung, sondern in der Regel an Schwäche, Situationsdruck oder der Prägung durch soziale Umstände.

Das rechte Menschenbild, das von dem Dogma "homo homini lupus" ausgeht, ist naiver als der Glaube an das Gute im Menschen. Wäre das konsequent der Fall, könnte nie eine Gesellschaft entstehen, die größer wäre als die kleinen Gemeinschaften der Jäger und Sammler in prähistorischer Zeit. Dieses Dogma ist aber vor allem das, was die Rechten immerzu den linken "Gutmenschen" vorwerfen: es ist verlogen. Es ist eine Lüge, die vom Lügner selbst geglaubt wird, um sein eigenes asoziales und antisoziales Verhalten zu rechtfertigen.

Rechte Narrative I: Das Boot

 

 

 

 

Deutschland ist ein Boot. Dieses Boot ist voll. Wenn wir noch mehr Einwanderer hereinlassen, wird das Boot kentern, und wir werden alle sterben.


Dieses Narrativ werde ich von rechts kritisieren. Um keine Begriffsmissverständnisse aufkommen zu lassen, werde ich nicht mehr von einer radikal rechten Perspektive sprechen, sondern meine vormoderne Perspektive als einen Blick von oben bezeichnen (Adelsperspektive).

Zunächst einmal ist "Deutschland" kein statischer Zustand, zu dessen unveränderter Bewahrung deutsche Bürger verpflichtet sind: was Deutschland ist, hat sich in der Geschichte immer wieder verändert, und wird sich in Zukunft weiter veränden, auch wenn sich der "Volkskörper" dagegen wehrt. Und schließlich muss auch Deutschland bzw. das Abendland, wie jede andere Kultur, eines Tages sterben. Ein Aufruf zur Autoannihilation ist das freilich nicht.

Das "gesunde Volksempfinden" meint, Deutschland sei für Deutsche, Baschkortostan für Baschkiren, Udmurtien für Udmurten usw. Doch Deutschland ist realpolitisch gesehen längst ein abhängiger Teil der Europäischen Union, die nur als solche, und nicht in die Nationalstaaten zersplittert, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen kann. Baschkortostan und Udmurtien sind Teile der Russischen Föderation, die diesen Völkern Autonomie gewährt hat, und sie nicht etwa ausgelöscht, wie China die Dschungaren (derzeit begeht es einen Quasi-Völkermord an den Uiguren). Sollte die RF infolge des laufenden Kollapskriegs zerbrechen, wäre das für die weniger zahlreichen Völker keine Befreiung, sondern ein Weg ins Chaos, es sei denn, die Gründung einer Union der turksprachigen Völker wäre möglich.

Der von Anspruchsdenken und automatischen Privilegien für Autochthone geleitete Michel meint, jeder zum Volkskörper gehörende Bürger hätte das Recht auf lebenslange Versorgung. Die Wertschöpfung, die dafür notwenig ist, wird aber längst von international vernetzten Unternehmen geleistet, und würde bei einer Isolation Deutschlands zusammenbrechen. Will sich Deutschland vom Weltmarkt nicht isolieren, kann es sich auch von den Flüchtlingsströmen nicht abschotten, da der Weltmarkt zu den Fluchtursachen beiträgt.

Eine Einwanderung in die Sozialsysteme kann diese durchaus bis zum Kollaps erschöpfen. Dann müssen eben die Sozialleistungen für alle gekürzt werden oder ganz abgeschafft. Die Großfamilien werden die Versorgung der Alten übernehmen müssen, was bis auf wenige historische Ausnahmen immer der Fall war. Wird sich die Sozialstruktur Deutschlands verändern, müssen alle das beste daraus machen, und das ist keine zynische Feststellung, denn eine dynamische Gesellschaft bietet für alle mehr Chancen als eine statische.

Deutschland wird nicht dadurch gerettet, dass wir es einfrieren oder in eine Mumie verwandeln. Die deutsche Gesellschaft muss das Fitnesstraining bestehen, das sie für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stärkt.

Dienstag, 25. April 2023

14. Der griechische Kultursieg

 

 

 

 

Die Griechen sind das größte Volk der Welt. Griechische Hegemonie bzw. Dominanz erstreckt sich über einen längeren Zeitraum als jede andere in der Geschichte. Um Griechenland zu einem anderen Land ins Verhältnis zu setzen: das Römische Reich war der große nostaligische Traum der Italiener von Rienzo über Leopardi bis Mussolini; beschworen, besungen, wiederausprobiert, nie erreicht. Für die Griechen war Rom eine kulturgeschichtliche Nuance. Rom entstand aus der griechischen Peripherie. Seit Alexander war Griechenland eine Weltmacht, seit Konstantin das globale christliche Imperium. Was die Griechen nicht eroberten, unterwarfen sie kulturell; wer Griechenland eroberte, wurde zum Griechen.

Die Westliche Welt ist ein von germanischen Völkern tradiertes griechisch-römisches Erbe. Ohne die Griechen wäre kein Christentum entstanden: es wäre in der chthonisch-tellurischen nahöstlichen Tradition verharrt und hätte seine soteriologische Wirkung durch das Dionysische und seine geistige Bedeutung durch das Apollinische nicht erhalten können. Jesus ist mehr Grieche als Jude. Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Recht: alles kommt aus Griechenland, einiges wurde durch die Römer verbessert. Die Abschaffung der Sklaverei im christlichen Europa war eine griechische Tat. Es sind keine Sklavenbefreiungen durch Jesus bekannt. Jesus betrachtete die Sklaverei als eine Selbstverständlichkeit, und im Gegensatz zu Aristoteles, der wenigstens einen logischen Grund für deren Existenz angab, zählte sie für den jüdischen Wanderprediger zu den Tatsachen des Lebens.

Der Untergang des Weströmischen Reichs war für Griechenland nicht so einschneidend wie für Westeuropa; schon Jahrzehnte später eroberte Justinian alles außer dem späteren Kern des germanischen Nordwesteuropas zurück. Bis in das vorletzte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts war das Oströmische Reich der politisch und kulturell wichtigste Staat der westlichen Hemisphäre. Seine Agonie, von der Selbszerstörung Ende des 12. Jahrhunderts bis zur schleichenden und 1453 endgültigen Eroberung durch die Osmanen, führte zur kulturellen Emigration nach Westeuropa, und diese dort zur Renaissance. Und selbst im Osmanischen Reich spielten die Griechen eine tragende Rolle. Deshalb verweigerten viele der dort lebenden Griechen dem unabhängig gewordenen Griechenland im 19. Jahrhundert ihre Unterstützung. Erst die Moderne mit der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Triumph des Chthonisch-Titanischen verzwergte Griechenland.

Griechenland ist also erst seit kurzem ein Nichts, und sein Untergang fällt nicht zufällig mit der Entstehung der modernen Welt zusammen. Spätestens seit der Renaissance, allerspätestens seit dem neuzeitlichen Klassizismus kann von einem griechischen Kultursieg gesprochen werden, wenn die Weltgeschichte ein Spiel wie Sid Meiers Civilisations ist. Was ist das Geheimnis der griechischen Dominanz über bescheiden geschätzt 15 Jahrhunderte? Es ist der Pakt des Apollinischen mit dem Dionysischen. Damit ist aber die Herrschaft der höheren Potenzen über die niederen, das Tellurische und das Chthonische, impliziert. Mit dem Untergang des griechischen Geistes, der im 19. Jahrhundert stattfindet, sprießen tellurische und chthonische Ideologien wie der Nationalismus (Blut und Boden), Sozialismus (Zerstörung der Hierarchie, Gleichmacherei) und Materialismus (Naturalismus, Feminismus) aus dem Boden. Das ist der Aufstand der Titanen.

Das Griechentum steht für die Menschen und ihre Götter. Seine iranischen Verbündeten (Zoroastrismus, solarer Dualismus) sind dem chthonisch-lunaren Islam verfallen, seine germanischen Alliierten (Odin, Thor, die Solaren und Himmlischen) wandten sich dem chthonisch-tellurischen Materialismus zu, wobei die Kontinentalen zugrunde gingen (Deutschland und germanisches Mitteleuropa im 20. Jahrhundert) und die germanischen Seevölker einen Pakt mit den Titanen schlossen (UK, USA). Das Warten auf den Messias (iranische und iranisiert-graecojüdische Lösung) und das Streben nach dem Übermenschen (germanische Lösung) sind die Antworten auf die trans- und posthumanen Herausforderungen der sich verselbstständigenden Technologie (in letzter Konsequenz KI). Die Hinüberrettunmg des Griechentums in einen tellurischen Kontext (Russland) ist gescheitert und zu einer wahnwitzigen Karikatur des Byzantismus verkommen.

Montag, 13. März 2023

Weitere Anmerkungen

 

 

 

 

Zusatz I: Nietzsche für Missratene

 Der Missratene wird sich entweder nicht als missraten fühlen (Lebenslüge) oder von sich wegsehen auf noch schlechter Weggekommene: Behinderte, Kranke, aber auch bestimmte Minderheiten, auf die das grobe Volksmaul gern Inkompetenz und Verachtungswürdigkeit projiziert.

Die Nietzsche-Lektüre ist für Schlechtweggekommene gefährlich: sie nährt nur ihr Ressentiment, ohne zur läuternden Krisis zu führen, die der Weg des durch Schicksal Missratenen zum durch die Kraft des Willens Wohlgeratenen sein könnte. Manche Philosophen sind nichts für schwachen Nerven, Nietzsche ist nichts für schwache Willen.


Zusatz II: Selbstmitleid

 Der Wohlgeratene hat Selbstzweifel, an denen er wächst, der Missratene hat Selbstmitleid, in dem er sich gemütlich einrichtet. Zweifelt ein intelligenter und sensibler wohlgeratener Jugendlicher an sich selbst, so kommt es schonmal vor, dass missratene Erwachsene von sich selbst auf andere schließen, und dem Jugendlichen Selbstmitleid vorwerfen.

Wohlgeratensein ist nicht ein Mangel an Intelligenz oder Fehlen von Sensibilität; zum Vortrefflichsein sind Intelligenz und Sensibilität zwingend erforderlich. Dumpf und debil, aber stark und selbstsicher bedeutet ein Wohlgeratensein nur im instrumentellen Sinne: ein nützliches Werkzeug für jeden manipulativen Mann und für fast alle Frauen.

Der Missratene ändert sich nicht in der Folge seiner Selbstzweifel, er suhlt sich in Selbsthass und empfindet sein Zukurzgekommensein fatalistisch. Dies führt zum Selbstmitleid, das so lange anhält, bis sich jemand endlich des Missratenen erbarmt. Das "Verständnis" für seine "Situation" nutzt der Missratene, um seine Untätigkeit zu rechtfertigen.

So wie der Missratene niemals dem Mut zum Freitod hätte, hat er auch keinen Mut, sein Leben zu leben. Darum ist er in seinem eigenen Leben kein Subjekt, sondern ein Objekt: das Leben passiert ihm nur. Weil er keine Entscheidungen trifft, ist er auch nie selber für etwas verantwortlich: die Anderen sind folglich an seinem Schlechtweggekommensein schuld.


Zusatz III: Recht auf Suizid

 Der Wohlgeratene besteht auf seinem Recht, über sein Leben frei zu verfügen. Deshalb bestreiten die Missratenen sein Recht auf Suizid, wobei es nie logische, manchmal moralische und oft emotional-manipulative Argumente (Beschämungen, Schuldgefühlmacherei) gibt. Der Bessere soll sich, würden sie sagen, wenn sie ehrlich wären, dem Elend um ihn herum ja nicht entziehen dürfen!

Der Missratene spricht nie über ein Recht auf Freitod, denn ein solches will er gar nicht haben. Im Gegenteil: er rechtfertigt seine Feigheit, es nicht zu tun, oft mit dem Argument, er dürfe es gar nicht. Sonst würde er ja... Aber nein, wird er nicht: er will bloß Aufmerksamkeit, bloß Mitleid, Verständnis, ein offenes Ohr, dass Mama oder Ersatzmama ihn wieder lieb hat. Kurz: er ist das Elend, dem sich andere Menschen ja nicht entziehen dürfen!


Zusatz IV: Lebensfeindlichkeit

 Du bist frei, lächelt dich der Vortreffliche an, nimm dir so viel Leben, wie du leben kannst! Aber du zögerst: mit der Freiheit hast du auch die Verantwortung. Schließlich begehst du einen covert contract mit dem Leben: du schreckst einerseits ängstlich davor zurück, es wirklich zu leben, und bindest dich andererseits an das Leben, indem du dir verbietest, es durch einen Freitod zu beenden (was logisch wäre, da du es ja nicht leben willst). Und nun schuldet dir das Leben etwas: ein besseres Karma, weil du keinen Suizid begehst, und es schuldet dir natürlich auch Mitmenschen, die immer für dich da sind, und dir gegenüber verpflichtet sind, sich auch in ihrem Leben an dein Suizidverbot zu halten. – Wenn du dieser Mensch bist, dann bist du so lebensfeindlich, wie ein Mensch überhaupt nur sein kann.

Leben bedeutet für den Wohlgeratenen hohes Leben – nicht als Anspruch, aber als Ideal. Lebensbejahung bedeutet zugleich, im Leben nach Vortrefflichkeit zu streben. Und Lebensbejahung bedeutet die bedingungslose Bejahung der Freiheit, die mit dem Leben einhergeht. Jeder verfügt auch frei über sein Lebensende: die Entscheidung, eines natürlichen Todes zu sterben, ist eine genauso freie und souveräne Entscheidung wie die Entscheidung für den Suizid (aus welchen Gründen auch immer dieser begangen wird). Wer den Freitod nicht wählt, fügt sich keineswegs in einen "natürlichen" Lauf der Dinge, – dieser existiert angesichts der Freiheit nicht, denn alles, was kein unmittelbarer Zwang ist, ist eine freie Entscheidung!

Für den Missratenen ist das Leben Zwang. Seine Lebensbejahung ist die Bejahung seines gekränkten Ego im Trotz gegen das Leben, gegen seine Unwägbarkeiten, das mit dem Leben einhergehende Leid, auch gegen die Ungewissheit, die Freiheit und die damit einhergehende Verantwortung für sich selbst.

Der Missratene will das Leben zu einem Gefängnis für sich und andere machen. Für diesen bedeutet die Missachtung seiner Ansprüche auf das Leben anderer Lebensverneinung; Lebensbejahung bezieht sich für ihn auf das elende, armselige Leben: es ist falsch, einen Verteidigungskrieg zu kämpfen, wenn die Alternative die Unterjochung deines Landes unter einen Tyrannen ist, der dich ja am Leben lässt, also schließlich "im Recht", weil "lebensbejahend" ist. Ja, ausgerechnet die Missratenen wollen Gott spielen!


Zusatz V: Zeloten der Vortrefflichkeit


 Gewarnt sei vor Zeloten der Vortrefflichkeit, wie eurem bescheidenen Diener, denn meine Wenigkeit wurde als Wohlgeratener unter Missratenen sozialisiert und schießt mit der Verachtung für Missratene über jedes vernünftige Ziel hinaus. Ein artgerecht sozialisierter Wohlgeratener würde allerdings niemals mit existentiellem Ernst philosophieren. Die Welt braucht Wohlgeratene, die Unrecht litten, die ins graue Gefängnis der Lebensfeindlichkeit geworden und ihrer Lebenskraft und Lebenslust systematisch beraubt wurden.

Wir sind keine Opfer, wir sind gute, nützliche Täter. Wir schätzen das Leben mehr, als Wohlgeratene, denen es zu selbstverständlich geworden ist, wir verteidigen die Freiheit kompromissloser, weil wir Unfreiheit erlebt haben, und wir kennen die andere Seite: die Dunkelheit des welt- und menschenhassenden Ressentiments, die Verstellung, die Verlogenheit, das armselige Elend, das sich selbst reproduzieren will, als hätte es ein eigenes Leben (ein Gegenleben, im Fall, dass es das materialisierte Böse selbst ist).

Und doch sei gewarnt vor unserem Eifer: der ist nicht für alle, nur für uns. Wenn wir unser Leben opfern, um Unschuldige zu retten, verpflichten wir andere nicht, es uns gleich zu tun: wir wollen Helden, Märtyrer, Krieger sein, und zwar aus Liebe, aus einer Liebe, die nur wir kennen, die der Sehnsucht des guten Herzens, das für lange Zeit in der Hölle (der anderen) war, entsprungen ist, und das Leben mit kindlicher Hingabe bedingungslos liebt. Es wird auch solche von uns geben, die ihre eigene Hölle für ihre einstigen Peiniger errichten werden, und es ist unsere – nicht eure – Aufgabe, uns täglich daran zu erinnern, dass wir im Kampf gegen das ästhetisch Böse selbst moralisch böse werden können.


Zusatz VI: Suizidgefahr

 So wie ein Bergsteigender oder Fliegender stets sturzgefährdet ist, ist ein hoch Lebender suizidgefährdet. Niemals suizidgefährdet ist nur ein niederes Leben, vergleichbar mit dem Regenwurm, der keine Fallhöhe hat. Ein Wohlgeratener ist oft genug suizidgefährdet, ein Vortrefflicher permanent, diesen Umstand gibt allein das scharfe Bewusstsein der Freiheit her.

Und wohlgemerkt: die Sturz-Metapher ist ein Vergleich, der dem Suizid, als einem unveräußerlichen Recht der Freiheit, schon Unrecht tut, weil er impliziert, dass der Freitod nur zu einem schlechteren Zustand führen könnte und außerdem den Sturz, Fall, bildlich als ein Scheitern darstellt.

Jeder, selbst der wohlbehütetste Wohlgeratene wird früher oder später mit unerwarteter Krankheit oder mit Alter und bevorstehendem Tod konfrontiert. Manche wirft das aus der Bahn und sie missraten, manche wirft das in eine neue Bahn, wie den vortrefflichen Prinzen Siddhartha, der zum Buddha wurde.

Glücklicher sind Vortreffliche, die die Suizidgefahr schon von Kindheit an kennen, die am Leid gewachsen sind, das aus Kohle Diamanten macht. Sie müssen nicht den Einbruch der Negativität in ihr wohlgeratenes Leben abwarten, ohne darauf vorbereitet zu sein: sie sind mit der Negativität aufgewachsen und an ihr gewachsen.

Es ist keine Leistung, keine gute Tat, kein Pluspunkt auf dem moralischen Schuldkonto, sich einen weiteren Tag nicht das Leben genommen zu haben. Es ist vielmehr ein intensiv erlebtes Glück, zu leben, obwohl der Freitod einem frei stand, und somit, zu leben, weil es das Leben selbst wert ist. Es gibt keine moralischen Gründe, den Freitod nicht zu wählen, es gibt nur ästhetische Gründe: eine neue Idee, die Schönheit eines Mädchens, der ewige blaue Himmel.


Zusatz VII: Missratene Weiber I

 Es ist dem Sexismus des Lesers überlassen, in der Unterscheidung der Wohlgeratenen und der Missratenen ausschließlich an Männer zu denken. Sexistisch ist aber schon der natürliche Instinkt, der sagt: die Frau ist schon, der Mann soll erst werden; die Frau hat ihren Wert von der Natur schon bekommen, der Mann muss sich erst beweisen.

Selbst wenn dem so: die Natur ist nicht perfekt. Es gibt hässliche Tiere, ja ganze Tierarten, die nur Abscheu und Ekel auslösen. Und wenn das Sollen, der Willensfreiheit, die Kultur auch zur weiblichen Existenz gehört, ist es umso verlogener, die Frau von dieser Unterscheidung auszuschließen.

Zunächst betrachten wir das narzisstisch missratene Weib, das seine Emotionalität verabsolutiert und über jedes logische und moralische Argument stellt. Es ist das Weib, das sich unreflektivert als Mittelpunkt der Welt betrachtet. Dieses Weib fühlt sich im Mutterrecht: nur weil es Leben austragen kann, fühlt es sich berechtigt, über alles Leben zu herrschen. Der Mann, das Kind und das Vieh sind da, um dem Weibe zu dienen, ja selbst die Kuh, deren Lebensleistung als Muttertier keineswegs geringer ist als die einer menschlichen Frau.

Das narzisstische Weib meint sich selbst nicht nur als Weib, sondern als das Weib: ICH, dieses Weib, bin das Zentrum des Universums, und alle haben mich gefälligst zu umkreisen! Das Ego ist aber ein Endliches, und die Verabsolutierung des Endlichen ist Hybris (im heutigen psychologisierenden Sprachgebrauch Narzissmus).



Zusatz VIII: Missratene Weiber II

 
Hässliche Weiber.

Es gibt viel an Deutschland auszusetzen, aber was einem wohlgeratenen Mann am schmerzvollsten auffällt, ist der Mangel an schönen Frauen. Deutschland wirkt womöglich vor allem deshalb selbst an den heitersten Orten grau und depressivistisch.

Das hässliche Weib ist das von Natur aus missratene Weib, und hat die sprichwörtliche Arschkarte, wenn es sich, wie das sexuell attraktive Weib, auf die Gaben der Natur verlassen und auf dem Mann parasitieren will. Diese Anspruchshaltung hängt ja nicht davon ab, ob eine Frau attraktiv ist: sie ist angeboren und beruht auf der Fähigkeit, Mutter werden zu können. Doch eine Heiratsprostituierte, die keiner will, ist selbst für die exakten Wissenschaften ein unlösbares Problem (und nein, auch die Spieltheorie kann dieses Problem nicht lösen).

Zurück zu den schönen Frauen. Frauen können schön sein – hässlich oder sexuell attraktiv sind Weiber. Es gibt die klassische schöne Frau, die von Natur aus Wohlgeratene, und zu ihr gibt es nichts weiter zu sagen. Es gibt aber auch die kulturschöne Frau, die wohlgeratene Emanze, die die zweitklassigen Gaben ihrer Natur mit geistiger Vortrefflichkeit ausgleicht. Sie stellt sich nicht als Sexualobjekt auf, ist keine Hure, benutzt ihre Sexualität nicht als Waffe, ist keine Nutte, vögelt nicht blöd herum, ist keine Schlampe. Ihr Leben dreht sich nicht um die Sexualität – die Sexualität ist nur ein Teil ihres Lebens.

Gerade die klassische, androgyne oder mannhafte Emanze kann in ihrer Selbstbestimmung und Würde schön sein, und wenn sie sexuell attraktiv ist, dann ist sie auch attraktiv, wenn sie Mutter ist, ist sie auch Mutter, – all das, womit die missratenen Weiber versuchen, Männer zu bestechen, zu erpressen, auszubeuten und zu beherrschen, sind Schwerter, die die ehrenwerte Emanze zu Pflugscharen umgewandelt hat. Sie hat den Mann als Versorger nicht nötig, sie hat das Kind als Geisel nicht nötig. Also nein: das missratene Weib ist nicht die Emanze.

Donnerstag, 9. März 2023

Das Ende (Der Übermensch)

 

 

 

 

Das Schreiben selbst entlarvt den Schreiberling als einen Missratenen, wenn es ein resignatives Schreiben ist: wenn er schreibt, anstatt zu leben. Lebendes Schreiben ist Vergnügen, weiter nichts, ernstestenfalls eine Übung, wie das Lesen. Wort und Schrift stehen überhaupt erst über Orgasmus und Sieg, weil der Geist nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Nur im Geist ist der Mensch göttlich, selbst im höchsten Leben ist er es nicht.

Der moralisch Wohlgeratene stellt fest: "Wenn es Gott nicht gibt, dann bin ich Gott". Damit bezieht er sich auf die Güte Gottes. Wenn es Gott aber nicht gibt, dann ist der moralisch vortrefflichste Mensch Gott im Sinne der Güte. So wird der Nihilismus moralisch widerlegt.

Durch selbstbestimmte Macht über das eigene Leben, die Autonomie der Persönlichkeit, kann der Mensch in dem Sinne Allmacht an sich reißen, als dass er sich keiner anderen Macht unterwirft. Die Macht, selbst seine Handlungsmaximen zu bestimmen, ist geistig-moralische Allmacht. Der kategorische Imperativ drückt seiner Form nach den Willen zur Macht aus.

Nur die Allwissenheit ist weder in der kleinsten Monade (denkendes menschliches Subjekt) noch in der unendlichen Monade (Gott/Universum/Dharma als allgemeines Subjekt) zu erreichen. Weltliche Macht kommt und geht, moralische Selbstbestimmung ist bloß defensiv: extravertierte und introvertierte Machtausübung scheitern an den Bedingungen ihrer Endlichkeit.

Der Wille zur Macht kann nur im Geistigen aufgrund der Unmöglichekit der Allwissenheit (eine Allwissenheit, die sich selbst als Allwissenheit weiß, ist mehr als sie selbst, womit die Allwissenheit nicht mehr Allwissenheit ist) unendlich fortschreiten. Nur hier, wo der vortrefflichste Wohlgeratene sich jeden Tag neu als Missratener betrachtet, und aus unversiegbarer Quelle des Willens unendlich streben kann, kann der Mensch nicht bloß (endlich) großer Mensch, sondern Übermensch werden.

Die Unmöglichkeit der Allwissenheit ist die Unsterblichkeit selbst: der Geist ist das Höchste und zugleich seine eigene ewige Transzendenz. Alles Selbstimmanente missrät, das ist sein Schicksal. Die Selbsttranszendenz ist der Weg zum Göttlichen. Das Ende des Lebens kann in der (narzisstisch-egobezogenen) Selbstimmanenz als alles der Sinnlosigkeit preisgebende Vernichtung oder aber in der übermenschlichen Selbsttranszendenz als Apotheose betrachtet (und erlebt) werden. Auch hier ist das Betrachten, das Geistige, primär, weil die Vorfreude von Dauer, während das Sterben ein kurzer (wenn auch glorreicher – sei es durch die heroischen Umstände oder die erhabene Haltung) Moment ist.

Dienstag, 7. März 2023

Das Mitgefühl

 

 

 

 

Eine Mitgefühlsethik – als ein Sollen – aufzustellen, ist schon der Nachweis, dass es das Mitgefühl, ohne dass es gesollt werden soll, nicht gibt. Schopenhauer ist schon Nietzsche bzw. Hobbes in Rousseaus Fell.

Der Wohlgeratene braucht das Mitgefühl nicht zu erlernen, er hat es schon: die heitere, von Hass und Ressentiment unbeschwerte menschliche Natur ist grundsätzlich empathisch. Erst wenn sich einer das Mitgefühl hart abringen muss, wurde er vom Ressentiment besiegt und ist missraten.

Daher handelt es sich bei der Zweiteilung der Menschen in Missratene und Wohlgeratene nicht um eine rechtsradikale Anthropologie: jeder kann wohlgeraten und jeder kann missraten. Der ärmste Sklave kann der Kaiser Roms werden und der Kaiser Roms kann zum übelsten geisteskranken Schurken entarten.

Das Mitgefühl ist nicht der Weg zur Katharsis des Missratenen, weil das Mitgefühl des Missratenen immer ein taktisches, ein berechnendes ist. Nächstenliebe ist, wie jede Form der Liebe, spontan und authentisch. Zwang kann weder Verliebtheit noch Wohlwollen erzeugen. Nur die Demut führt zur Katharsis – die Liebesfähigkeit ist, wie die Wohltätigkeit, eine Ressource, die der Missratene gar nicht hat. Er kann bestenfalls seine Schuldigkeit tun.

Die Angstmache vor den ungezähmten Wohlgeratenen entspringt der Projektion: der Missratene weiß, dass er selbst ein Lügner, Betrüger, Verräter und Schinder ist, und stellt sich den Wohlgeratenen als einen sich ähnlichen Widerling vor, nur viel mächtiger. Um der Hasspropaganda gerecht zu werden, bräuchte der Wohlgeratene aber Fähigkeiten, die er gar nicht hat, weil er sie nicht entwickeln konnte: die Fähigkeit, ehr- und würdelos zu handeln kann nicht theoretisch erlernt werden.

Der Missratene bettelt kniend um Mitleid, um seinen Wohltäter im nächsten Augenblick auszurauben; er erbettelt Frieden, um bei nächster Gelegenheit heimtückisch zu meucheln. Nur Feigheit hält den gemeinen Massenmenschen von Mord und Vergewaltigung ab.

In der demokratistischen Gleichmacherei wird der seltenere Wohlgeratene vom großen Haufen der Missratenen für ihresgleichen gehalten, und weil er stärker, klüger, schöner, besser ist, werden die in jedem Missratenen schlummernden Charakterfehler und bösen Absichten hochkonzentriert auf den Wohlgeratenen projiziert.

Montag, 6. März 2023

Harte Ziele

 

 

 

 

Nietzsche würde im Kinozeitalter seinen von allen Fesseln des Gewissens befreiten Wohlgeratenen zum Beispiel in Lance Henriksens Charakter aus dem Film "Harte Ziele" erkennen. Dieser wahre Gentleman ist kein Monster: kein Psycho- oder Soziopath, der zu seinem Vergnügen vergewaltigt und foltert. Aber er tötet zu seinem Vergnügen, und zwar Menschen, die sich für Geld eine Nacht lang auf den Straßen der schlafenden Stadt jagen lassen. Die Jäger sind dekadente Reiche, die schon jedes Vergnügen kennen, und die eine Hetzjagd auf menschliches Wild genießen.

Van Dammes Charakter gerät mit diesen Reichen in Konflikt, weil der Vater einer jungen Frau, die er gerade kennengelernt hat, bei einer Menschenjagd, in die er selbst (für Geld) eingewilligt hat, ums Leben gekommen ist. Der arbeitslose Matrose mischt sich in etwas ein, was Erwachsene freiwillig untereinander vereinbart hatten. Der Einsatz des armen alten Mannes war sein Leben gewesen, das hat er selbst so entschieden. Doch wer kann dem wohlgeratenen starken jungen Mann, der an der Tochter des Getöteten romantisch oder erotisch interessiert ist, verbieten, aus Rache für deren Vater den Kampf aufzunehmen?

Der siegreiche Charakter Van Dammes sagt zum Schluss, dass auch arme Menschen ihren Spaß haben wollen (der Konflikt mit der Gruppe der Menschenjäger geriet zu einem herrlichen Action-Showdown). Er hätte auch sagen können: "Verwechselt Wohlgeratensein nicht mit sozialem Status!"

Der Wohlgeratene muss nichts beweisen, er kann auch als Rumtreiber leben. Einer mit hohem sozialen Status, der nach unten tritt und nach oben buckelt, ist eindeutig ein Missratener. Der Wohlgeratene bestimmt selbst über sein Leben, er geht seinen eigenen Weg. Oder sprechen wir bereits über den Vortrefflichen, den idealen Wohlgeratenen? Jedenfalls gilt die Meinung der anderen dem Wohlgeratenen nichts, also pfeift er auch auf die Gesellschaft und den Status, den diese ihm zuschreibt.

Was nicht bedeutet, dass der Wohlgeratene sich keinen hohen Status erstreiten würde. Wenn es seinen persönlichen Zielen dienlich wäre, würde er erfolgreich und auch reich werden wollen. Er hegt keine grundsätzliche, "moralische" Verachtung gegen die Gesellschaft. Er nutzt die Gesellschaft und ihre Spielregeln, wie es ihm passt.

Das Karma

 

 

 

 

Warum soll der Wohlgeratene überhaupt ein Gewissen haben, wenn es das Leben nur schwerer macht, und außerdem missbrauchsanfällig ist? Weil das Gewissen auch das Organ ist, mit dem das eigene Karma intuitiv gespürt wird. Ohne Gewissen fehlt das Gefühl für das Weltganze. Das Karma kann aber auch intellektuell errechnet werden, nur ist es ziemlich unangenehm bis nahezu unerträglich, im kosmischen Sinne nicht intuitiv zu wissen, woran man ist.

Gewissenlos unter Missratenen zu leben bedeutet, sich des kategorischen Imperativs ihnen gegenüber zu enthalten, sie manipulativ, wie bloße Mittel zum Zweck zu behandeln. Doch wird der durch den Willen zur Macht getriebene Machiavellist nicht sofort morden und vergewaltigen, wenn er sein Gewissen abwirft? "Ohne Gewissen, da wird doch jeder machen, wozu er Lust hat. Kinder missbrauchen!" Warum, antworten wir, o Missratener, denkst du zuallererst daran? Weil es wohl deine Machtphantasie ist! Welche Lust hat ein geistig gesunder weltlich erfolgreicher Lebemann daran, ein Kind leiden zu lassen? Würde er sich nicht lieber um die echte Zuneigung einer Frau bemühen, die ihm körperlich und geistig gewachsen ist, um sie werben und konkurrieren, s/meinetwegen auch mit unfairen Mitteln?

Doch der Missratene nutzt jedes Machtungleichgewicht aus, um sich an Schwächeren abzureagieren. Ein missratener Vater, der heimlich seine Tochter vergewaltigt, denkt gar nicht so heimlich, seine Frau sei daran schuld: weil sie sich ihm seit Jahren sexuell verweigert, weil sie zu dick geworden ist, – ein Grund lässt sich immer finden. Der Missratene schließt von sich auf andere, und kommt so zu seinen menschenverachtenden Schlüssen.

Der Wohlgeratene weiß, dass jeder Mensch anders ist, und stellt sich der Gefahr des fortwährenden Missverständnisses, und auch der Tatsache, dass er die Mitmenschen nie wirklich kennen kann, dass jeder Mensch für den anderen unberechenbar und unkontrollierbar ist. Erst in diesem Zusammenhang hat sein Wille zur Macht überhaupt einen Sinn. Wenn aber – real oder mithilfe einer Lebenslüge – deine Welt in Ordnung ist, und bereits von guten Mächten regiert wird, wozu das kraftraubende Streben nach Macht, wenn doch der Genuss des Lebens am naheliegendsten ist?

Das Gewissen

 

 

 

 

Das Leben ist leicht. Es kann hart, schmerzvoll, tragisch sein, und es ist immer noch leicht. Erst das Gewissen verleiht dem Leben Schwere.

Das Gewissen ist ein Speichermedium für Ressentiments, es ist das personalisierte Gedächtnis. Erinnerungen werden darin nicht neutral und objektiv nach Wahrheit und Wichtigkeit, sondern immer im Bezug zur eigenen Person gespeichert.

Wer die doppelte Buchführung erfunden hat, hat, wie die meisten Erfinder, bloß bei der Natur abgeschaut. Das Gewissen speichert Schuldscheine und Gutscheine; weil die Schuldscheine gültig sind, solange die sich schuldig fühlende Person ihre Gültigkeit durch die Schuldgefühle anerkennt, ist die Schuld harte Währung. Die Gutscheine sind immer unsicher, da eine Person nie wissen kann, ob sie tatsächlich bekommt, was ihr nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden zusteht.

Die uneingelösten Gutscheine verwandeln sich in Ressentiments. Diese berechtigen zum Hass, ohne sich dabei zu versündigen; berechtigter Hass wird ausgelebt und der Gutschein damit verbraucht. Doch hier denkt der Missratene, er würde den Gutschein dennoch für alle Ewigkeit besitzen. Er hat den Kuchen in Form von Hass (Versündigung gegen die Nächstenliebe, Übelwollen, eventuell Schadenfreude) längst gegessen, führt ihn aber weiterhin als einen Akitivposten. In den Seelenkellern der Missratenen stapeln sich gegessene Kuchen.

Die Schuld ist unmittelbar durch das Schuldgefühl wirksam. Deshalb werden Schuldgefühle benutzt, um andere zu beherrschen, zu entwaffnen oder zu schwächen. Die Sklaven bleiben durch ihre Schuldgefühle (wobei es hier eher die Furcht vor der Hölle ist) versklavt und erlösen sich nicht selbst durch den Freitod. Die mittelmäßig Missratenen werden durch Schuldgefühle zu moralisch besseren Taten angetrieben als ihre wahren Absichten (wobei es bei ihnen eine zum Schuldgefühl konditionierte Angst vor Strafe ist). Nur die Wohlgeratenen empfinden Schuld als Schuld: Reue, Bedauern, Selbstverachtung, und haben den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, und den unbedingten Willen, den Schaden wiedergutzumachen.

Auf dem Gewissen der Wohlgeratenen, das nach Reinheit strebt, parasitieren die Missratenen, indem sie ihnen Schuldgefühle machen. Manche der Wohlgeratenen, die weniger Geistig-Apollinischen und mehr Seelisch-Dionysischen, legen das Gewissen ab und befreien sich so von ihrer Schuld. Dann werden sie von den Missratenen als gewissenlos bezeichnet. Doch die Qual des Gewissens ist für einen Menschen, der wahrhaft nach seinem Ideal strebt, viel leidvoller als die dumpfe Angst der Ochsen vor dem Schlächter, ohne dessen Vorstellung sie sofort zu Verbrechern geworden wären.

Die Manipulation des Gewissens, der Missbrauch der Schuldgefühle, verursacht beim höheren Menschen so schweres Leid, dass er moralisch berechtigt ist, das Gewissen abzulegen, um weiter leben zu können: um nach der Selbstvervollkommnung zu streben, musst du am Leben sein. Dieser Zwangsabstieg vom Apollinischen zum Dionysischen ist bereits der Preis, den der Wohlgeratene für das Abwerfen des Gewissens bezahlt hat, und nun hat er das Recht, sich wie ein ungezähmtes Raubtier zu verhalten und rücksichtslos Gewalt gegen die Missratenen auszuüben: sie haben ihm bereits durch dieses Herunterziehen Gewalt angetan, und so kann er ihnen gegenüber nicht mehr schuldig werden.

Sonntag, 5. März 2023

Gut und Böse

 

 

 

 

Wenn der Mensch ein zwischen dem Tier und dem Übermenschen aufgespanntes Seil ist, dann ist all das gut, was das Potential des Menschen, Übermensch zu werden, fördert, und all das böse, was dieses Potential hemmt, und damit den Menschen in ein (bloßes) Tier verwandelt.

Der göttlichere und der tierischere Mensch verhalten sich zueinander wie Gut und Schlecht, Gut und Böse sind dagegen keine Zustands-, sondern Willensbeschreibungen. Der böse Wille will das Höhere dem Niederen unterwerfen: die Schönheit der sexuellen Attraktivität, das Menschliche dem Tierischen, das Recht der bloßen Gewalt.

Die Wohlgeratenen sind auf dem Weg zum Übermenschen durch glückliche Fügung oder Karma weiter als die Missratenen. Da dieser Unterschied nur graduell ist, kann nicht gesagt werden, dass die Missratenen keine Würde besitzen: sie haben diese nur im geringeren Maße. Würde muss verdient und kann verwirkt werden. Aber Würde wird, wie Liebe oder Gnade, auch gegeben, und der Prinz bekommt nunmal mehr Würde in die Wiege gelegt als der Bauernsohn.

Das Bestehen auf seiner Würde ist Ehre. Mehr Würde bedeutet mehr Form: der Würdigere muss sich mehr in Form halten, das Leben des Würdigsten gleicht einem Ritual ohne Willkür, ohne falsche Bewegung.

Die Wahrhaftigkeit bildet die Basis der Integrität. Das Gegenteil, die Verlogenheit, untergräbt die Integrität. Der wahre ontologische Status und der Habitus einer Person müssen in Harmonie sein. Dies bedeutet keineswegs, dass es eine Tugend ist, sich selbst zu erniedrigen. Im Gegenteil: die Selbsterniedrigung ist unehrenhaft, weil sie die Würde des eigenen ontologischen Ranges verletzt.

Die größere Gefahr geht ohnehin von der Selbstüberschätzung aus. Deshalb ist der größte Feind der Integrität die Hybris. Die Tugend, die diesen Feind schlägt, ist die Demut.

 

Die Raubtiere

 

 

 

 

In der Hochkultur herrscht das Geistige, in der Dekadenz wird seine Herrschaft schwächer und die vortrefflichen Lebemänner begehren auf. Sie stellen die Sitten in Frage, die Moral, die Besitzverhältnisse. Wieder sind wir bei Nietzsches Priester: diese Figur an der Schwelle zwischen den Wohlgeratenen und den Missratenen hätte gar keine Macht, den wohlgeratenen Raubtieren etwas zu verbieten. Nur die apollinische Herrschaft der geistig Wohlgeratenen kann die Gier der im Leben Vortrefflichen im Zaum halten.

Die Dekadenzphase kennt den Dandy, den Libertin, aber auch den Kapitalisten und Spekulanten. Solche Figuren gibt es immer, aber sie können nur in bestimmten sozialen Phasen viel Macht akkumulieren. In der Ultradekadenz beginnen sie sogar völlig zu herrschen. Der Rockstar, der eine vierstellige Anzahl an Frauen fickt, der Topmanager, der Milliarden scheffelt, der Ölmagnat, der die Politik ganzer Staaten lenkt: das ist Adornos und Horkheimers "Gesetz des Dschungels". Jeder nimmt sich, was er kann. Gesetze sorgen für oberflächliche Ordnung und verrechtlichen die Unrechtsverhältnisse. Aber ist es wirklich Unrecht?

Warum soll sich der Starke zurückhalten, wenn er sieht, dass die hohen Werte nicht mehr gültig sind? Auf wen soll er Rücksicht nehmen, wenn die Schwachen als Masse kein Recht, sondern schäbige Interessen durchsetzen wollen? Außerdem gibt es nicht nur einen Starken; hält sich einer zurück, reißt ein anderes Raubtier seine Beute.

Eine dekadente Gesellschaft hat keine geistig-moralische Autorität, um den Starken etwas zu verbieten. Sie gibt ja auch dem Gejammer der Schwachen nun immer mehr nach, die in der Masse stark sind, stärkt nach jeder Legislaturperiode weiter ihre "Rechte", lässt die politische Agenda von selbsternannten oder tatsächlichen Opfergruppen bestimmen. Nietzsches Priester wollte den Wohlgeratenen Gewissensbisse aufbürden, die dekadente Gesellschaft bürdet ihnen Rechnungen auf. Dann wandern sie halt in Länder aus, die ihre Raubtiere in Ruhe lassen: diese starken Persönlichkeiten sind letztlich in der Konkurrenz der Länder untereinander entscheidend. Deutschland hat aus bestimmten Gründen keinen Bill Gates, Steve Jobs oder Elon Musk.

Die Frage, was gut und was böse ist, muss von der Frage getrennt werden, wer die moralische Autorität hat. Die Moralfrage kann nicht auf die Machtfrage reduziert werden, aber sie erübrigt sich in einer dekadenten und erst recht ultradekadenten Gesellschaft, da sie sich niemandem mehr stellt.

Der Stutenkult

 

 

 

 

Die Schönheit ist elitär, aristokratisch. Die wohlgeratene Frau verletzt durch ihre Existenz die freiheitlich-demokratische Grundordnung (des Pöbels, – muss dieser Satz beendet werden). Die schöne Frau ist nicht "emanzipiert", sie ist nicht Mannsweib genug. Eine Frau, die nicht grob, laut, vulgär, nuttig, tätowiert und zigarettenabhängig ist, ist ein "Opfer des Patriarchats". Und so wurde das ewige weibliche Schönheitsideal der grazilen Elfe, der zarten Fee durch die sexuell aufreizende banal-vulgäre Stute ersetzt.

Dabei bleibt die Sendung "Deutschlands nächstes Topmodel", die, obwohl von Deutschen für ein deutsches Publikum produziert, ihren Titel auf Englisch trägt, nicht dabei stehen, die Fleischbeschau halbnackter mit allen Abwassern gewaschener junger Stuten zu zelebrieren: auch das Fleisch hässlicher und sogar alter Frauen wird gezeigt, wo doch das zugrundeliegende Schönheitsideal Jugend, Gesundheit und sexuelle Attraktivität impliziert. Das ist so grausam diesen Teilnehmerinnen gegenüber, als würde man geistig Behinderte bei intellektuellen Quiz-Shows vorführen.

Aus dem Kult der bloßen Gesundheit wurde im Zeitalter der Ultradekadenz der Kult der Banalität bloßer Weiblichkeit, was immer das heute auch sein soll: es reicht mittlerweile, sich als Frau zu fühlen, um als Frau anerkannt zu werden. Die im Arsch-und-Titten-Terror der Aufmerksamkeitsfängerinnen exhibitionistisch vorgeführten sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale werden sogar noch in den Schatten gestellt durch die zunehmende Verhässlichung der tertiären Geschlechtsmerkmale.

Zunächst einmal ziehen sich von Armut nicht unbedingt betroffene Frauen immer mehr wie Pennerinnen an; der Nutten-Look gilt als ein vom Feminismus erkämpftes Recht der Frau. An ungepflegten Händen sind bizarre künstliche Fingernägel aufgeklebt, zu groß, hässlich, nicht selten widerlich, und oft schlampig gemacht. Tätowierungen und Piercings gelten als Standard. Vorsätzlich hässliche Frisuren sollen Stärke und Unabhängigkeit symbolisieren. Gesundheitlich gefährliche Fettleibigkeit gehört zum Kanon der Frauenrechte, der Hinweis auf gesundheitliche Schäden von Fettleibigkeit gilt als patriarchale Bevormundung.

Die Kultur, die Gesellschaft, die Kunst, den Missratenen überlassen, degenerieren. Die Wirtschaft, die Naturwissenschaft und die Technologie, wo die Wohlgeratenen immer noch das Sagen haben, sorgen mit ihren Leistungen dafür, dass dieses Kranken- und Irrenhaus, das wir Gesellschaft nennen, weiterhin bestehen kann.

Der Ochsenkult

 

 

 

 

Nietzsche, der für die Löwen schrieb, wurde von den Ochsen vereinnahmt und auf ein entsprechendes Niveau heruntergebrochen (die debilsten Ochsen waren die Nationalsozialisten). Dabei war Nietzsche schon selbst eine Dekadenzerscheinung: er machte einen Kult um eine Selbstverständlichkeit (die körperliche Vitalität) und musste sein Ressentiment gegen das gesunde Geistige verarbeiten (bezeichnend: er wurde schließlich geisteskrank).

Der Kult um das vortreffliche Leben, das "den Geist nicht nötig hat" (Thomas Mann, eine weitere Figur der abendländischen Dekadenz), wurde heruntergebrochen auf einen Kult um das bloße Leben. Noch mehr als für Nietzsche war für seine rindtierischen Nachfolger alles Geistige (und nicht erst die Moral) ein Zeichen der Schwäche, des Losertums, der Minderwertigkeit. Aus der Organminderwertigkeit entstehe die geistige Überkompensation, so die Küchenpsychologie der Zeit.

Wer den Brutalen, Rücksichtslosen, Starken böse nennt, ist ein Heuchler, denn er würde genauso handeln, wenn er auch stark wäre: das ist vitalistische Moralkritik. Diese Kritik ist größtenteils zutreffend, denn die Moralität degeneriert tatsächlich immer wieder zum Werkzeug des Neids und Ressentiments: die Moral als Waffe der Schwachen.

Die Intellektualität als solche aber für minderwertig zu erklären, wie der Antiintellektualismus der abendländischen Spätdekadenz es vermochte, verkehrt berechtigte Kritik in unfreiwillige Selbstparodie: hier entlarven sich Idioten als das, was sie sind. "Du bist ein Schwächling, also liest du Bücher!" "Nur Loser spielen Schach, echte Männer boxen!" "Die Trauben des weltlichen Erfolgs waren unerreichbar für ihn, also immatrikulierte er sich an der philosophischen Fakultät".

Wenn jene, die vom Geist nichts verstehen, über den Geist urteilen, kann nicht einmal von einer intellektuellen Fehlleistung gesprochen werden, denn die Grundlage des Urteils ist eine auf Emotionen basierende Überzeugung. Das Ressentiment des Dummkopfs gegen den Intellektuellen mit dem zugleich wahrgenommenen Intellektualismus der europäischen Juden hat den Antisemitismus der Missratenen in einen Tsunami des Hasses verwandelt, der Fabriken der Menschenvernichtung auftürmen konnte. Die normative Kraft des Faktischen angesichts der Tatsache, dass die antiintellektualistische Mehrheit eine Minderheit von Intellektuellen und Juden planmäßig vernichten konnte, bestärkte den magischen Volksglauben an die Macht der braunen Masse und die Ohnmacht des Geistes, des Genies, der Persönlichkeit.

Das Schlusskapitel des Kriegs der Welt (1904-1953, Niall Ferguson) waren jedoch nicht die Gaskammern, die im Prinzip auch von Imbezillen hätten bedient werden können, sondern eine Hochleistung "abstrakter" Intellektualität, theoretischer Physik: die Atombombe zwang als vergleichsweise konservative Uran- bzw. Plutoniumbombe das bis in den Untergang kampfbereite Japan zur Kapitulation, die bald daraufhin getestete Wasserstoffbombe machte eine Fortsetzung der Weltkriege des 20. Jahrhunderts undenkbar.

Die Vortrefflichen

 

 

 

 

Bin ich als Wohlgeratener schon vortrefflich? Ich denke, es wäre klüger, zwischen "wohlgeraten" und "vortrefflich" einen pädagogischen Hiatus klaffen zu lassen. Was will ich als Wohlgeratener? Vortrefflich sein.

Es ist, als läse ich ein Buch, und könnte nicht aufhören, weiterzulesen, nur dass ich es gerade nicht lese, sondern schreibe. Ich bin in meinem Element. Die schon bekannte Moralkritik Nietzsches ließ mich als scheinbar erledigte Sache lange kalt, bis ich ein Buch von Johan Huizinga las, der in den 1930-ern den Vitalismus, den Kult um das (bloße) Leben und den damit einhergehenden Niedergang der Vernunft analysierte. Da dämmerte mir, dass erst mit der Altersschwäche der (geistigen) Hochkultur das (naturhafte) Leben zum Ideal werden konnte, wo es früher selbstverständlich war. So wie früher erst bei echter Schönheit Frauen und Männer als vortrefflich hervorgehoben wurden, während die heutigen Stuten und Hengste bereits für bloße Gesundheit verehrt werden (Models, Instagram- und Pornostars).

Ich bin Philosoph, Denker. Dass mein Körper gesund ist und gut funktioniert, ist eine Selbstverständlichkeit, von der ich ausgehe, und die ich wiederherstelle, falls dem mal nicht so ist. Ich lebe gesundheitsbewusst, mache aber keinen Gesundheitskult daraus. Ich trainiere; ich ziehe mich adrett an, ich trage Parfüms von Tom Ford. Ich genieße viel, bin aber kein Hedonist. Die Hauptsache bleibt die Leidenschaft des Denkens, die, gegen Kant, Lust und Pflicht zugleich ist. Ich will denken und das verpflichtet mich moralisch, Denker zu sein. Ich will besser denken, ein besserer Denker sein. Das zeigt sich auch daran, welche Beleidigungen mir nahe gehen. Bei "Impotent" zucke ich mit den Schultern, bei "Dummkopf" zucke ich zusammen.

Die Vortrefflichen sind durch ihren eigenen Willen bestimmt, während die Gemeinen durch den Willen anderer (oder das Schicksal oder den Zufall) bestimmt sind. Die Vortrefflichen tragen Verantwortung für ihr Geschick, für das Schicksal der Gemeinen ist "die Welt" verantwortlich.

Die Gemeinen sind wiederum nicht zwangsläufig missraten. Obschon es ein ästhetisches Vergehen ist, von wohlgeratenen Gemeinen zu sprechen, muss bescheidenen, mit wenig zufriedenen, freundlichen und fleißigen Frauen und Männern aus dem einfachen Volk Respekt gezollt werden. Wenn der Ochse kein Löwe sein will, ist er kein gemeiner Ochse mehr, sondern ein respektabler Stier.

Der Vortreffliche ist eine Persönlichkeit, keine "Farbrikware Mensch" (Schopenhauer). Die Vortrefflichen sind daher einzigartig und trotz allen Ehrgeizes zu aufrichtiger Anerkennung anderer fähig. Der Neid hält sich aufgrund hoher Differenziertheit in Grenzen. Die "Farbrikware Mensch" gleicht sich jedoch wie die Murmeln aus derselben Glasmanufaktur; jedes Herausstechen aus der Masse erzeugt bei den Gemeinen Neid und Argwohn.

Der Vortreffliche weiß, dass die Ausdifferenzierung und Entwicklung einer Meisterschaft nur auf Kosten anderer Errungenschaften gehen kann. Der Wohlgeratene ist nicht erst dann wohlgeraten, wenn er ein Hansdampf in allen Gassen ist: er findet seine Identität und baut das ihm körperlich und geistig Gegebene um diese herum. Du kannst ein Schloss, ein Tempel, eine Burg, eine Kathedrale oder ein Stadion sein, aber nicht alles zugleich. Der Missratene ist an sich überhaupt nichts, er nimmt wie Wasser die Form des Gefäßes an, in welches er vom "Leben" gegossen wird.

Die Selbstprüfung

 

 

 

 

 

Nietzsches Zweiteilung der Menschheit in die Wohlgeratenen und Missratenen ist grundsätzlich zutreffend, auch wenn die Menschheit ontologisch dreigeteilt ist (Lehrstand, Wehrstand, Nährstand). So gibt es auch wohlgeratene Bauern, vortreffliche Kaufleute, Menschen aus dem Dritten Stand, die nicht im Ressentiment gegen die höheren Stände leben. Da die Ständegesellschaft nicht mehr existiert, geht es heute um (Neid auf) den inneren Adel.

Ich erkenne und anerkenne Nietzsches Unterscheidung, und muss mich somit selbst prüfen. In der Tradition härtester Selbstkritik zähle ich mich sofort zu den Missratenen, und mein erster Impuls ist der Entschulss zum Suizid.

Wer aus einem anderen Grund als dem Wunsch, zu leben, oder der Furcht vor dem Tod den Suizid unterlässt, lügt. Keiner lebt um der Anderen willen, wenn er sterben will. Das sind nur Ausreden, um die mutige Tat der Selbstentleibung zu fliehen. Die Gründe sind immer geheim und meistens jämmerlich. Die meisten Verzweifelten bringen sich nicht um in der Hoffnung, dass sich jemand doch noch ihrer erbarmt. Der Glaube daran, aufgrund eines Selbstmords in die Hölle zu kommen, beleidigt die Güte Gottes. Gott wird arme Verzweifelte, die keine Kraft zum Leben mehr hatten, nicht zum Teufel schicken.

Alles Probleme, die mir fremd sind. Bei mir bedarf der Suizid nur eines festen Entschlusses. Sollte ich mich tatsächlich am Ende der Selbstprüfung zu den Missratenen zählen, wäre mir der Weg zum Freitod durch keine Ängste oder Hoffnungen verbaut. Aber wenn ich mich als missraten empfinde: missraten als was? Als Mensch schonmal nicht, denn meine Würde, Ehre und Integrität habe ich stets erfolgreich verteidigt. Ich habe nie meine Seele verkauft und keine Todsünde begangen: ich habe das Recht, zu leben, nicht verwirkt.

Bin ich als Mann gescheitert? Was für ein Mann – ein Männchen, ein Deckhengst? Der wollte ich nie sein. Wo ist meine olympische Medaille? Warte, ich suche. Allenfalls für Denksport habe ich eine: einen Hochbegabtenschein. Aber weltlichen Erfolg kann ich nicht nachweisen. Bin ich also ein Missratener, der nur intelligent ist? Was bedeutet denn "nur intelligent"? Habe ich außer Intelligenz nichts, was mir Wert gibt, keine Würde, keine Ehre, keine Integrität (erkämpft und verteidigt, nicht bloß behauptet)?, – doch, durchaus. Lebe ich selbst- oder fremdbestimmt? Lebe ich in Liebe und Heiterkeit oder in Hass und Ressentiment? Oh là là: ich bin ein glücklicher Philosoph.

Aber was ist ein Philosoph? Der Fussballspieler fragt: "Wie viele Tore hast du in deinem Leben geschossen?" Ich muss zugeben: "Keins bei offiziellen Spielen". Der Casanova fragt: "Wie viele Frauen hast du verführt?" Ich muss sagen: "Null". Der Scharfschütze ist neugierig: "Wie viele Feinde hast du getötet?" Ich sage: "Ich habe noch keinen Menschen getötet". Und es ließen sich weitere arbiträre Kriterien anführen, nach denen ich missraten wäre. Aber was ist mein eigenes Ideal? Was will ich, was wollte ich schon immer sein? Die Leidenschaft des Erkennens hat meinen Willen ergriffen, als ich noch ein Kind war. Das forschende und denkende, geistige, theoretische Erkennen war immer die Herausforderung, die vor mir lag. Ich bin nicht als gescheiterter Rennfahrer Philosoph geworden.

Vortrefflich zu sein im Geistigen aus Überschuss oder wenigstens ohne Sorge um das körperliche Wohl oder den weltlichen Erfolg macht aus mir einen Wohlgeratenen. Vortrefflich! Ja, das bin ich.

Die Gemeinen

 

 

 

 

Apollinisch und dionysisch sind die Vortrefflichen, chthonisch und tellurisch sind die Gemeinen. Apollinisch ist der Geist, dionysisch ist das Leben. Das ist keineswegs ein kontradiktorischer Gegensatz, denn der Geist ist lebendig, und das Leben geistig.

Wo das Leben das Geistige verlässt, in die bloße Natur absteigt, wird der vortreffliche Dionysos durch seinen gemeinen Doppelgänger, den titanischen Adonis, ersetzt. Die Werte des Vortrefflichen (Ehre, Würde, Schönheit) werden durch selbstbezügliche Interessen ausgetauscht. Die Vortrefflichen sind selbsttranszendent, die Gemeinen sind selbstimmanent.

Durch Selbsttranszendenz gewinnen die Vortrefflichen Leichtigkeit und Ironie. Der vortreffliche buddhistische Mönch hasst das Leben nicht: seine Lebensverneinung besteht darin, dass er das Leben leicht, nicht ernst, ironisch nimmt. Jesus-Adonis schreit: "Vater, warum hast du mich verlassen!?" Jesus-Dionysos spricht: "Es ist vollbracht" (beide wohlgemerkt ans Kreuz genagelt unter starken Schmerzen).

Der Vortreffliche lebt seine Werte und Ideale, d. h. er lebt, wie er will. Da seine Werte mit ihm untrennbar verbunden sind, hat er Wert. Da die Wertbindung des Gemeinen unverbindlich und opportunistisch ist, ist er wertlos.

Der Gemeine lebt im Verbrechen, wie er kann, und im Gesetz, wie er muss. Er lebt nie, wie er soll: die genuin moralischen Handlungsmaximen schiebt er nur vor. Der Vortreffliche hat Gründe für seine Taten, der Gemeine hat Ausreden.

Das Sollen ist eine Selbstprüfung des Vortrefflichen, der sich fragt, ob er seinem Ideal genügt. Für den Gemeinen soll immer der Andere: der Reiche soll teilen, der Schöne soll nicht so glänzen, der Glückliche nicht so strahlen; Jesus soll geben (Glück und Gesundheit z. B.), Maria soll nehmen (den Schmerz und die Verzweiflung), jeder soll, jeder ist dem Gemeinen etwas schuldig. Schließlich hat man sich ja ohne Widerrede hinten in der Reihe angestellt, und gewartet, bis man mit all dem "dran" ist, wofür die, die es schon haben, entweder Glück und gutes Karma oder aber Mut und Geschick gebrauchen mussten.

Der Missratene ist um die Frauen von Leonardo DiCaprio betrogen worden, denn Gott hätte doch auch ihn einen Leonardo DiCaprio machen können.