Die Anspielung auf die fünfte Staffel von La Piovra hat den
Hintergrund, dass die Geschichte, die in diesen fünf Episoden erzählt
wird, paradigmatisch für unsere Erfahrung mit der Erfahrung ist,
genauer, mit unserem Speichermedium der Erfahrung, der introvertierten
Sinnlichkeit (Si). Ein idealistischer junger Mann wird
durch traumatisierende Erfahrungen in einem sehr kurzen Zeitraum zum
kaltblütigen Mörder; ein Mensch, der aufgrund seines guten
philanthropischen Charakters anfangs zur Mafia nicht passt, übertrifft
sogar ihren größten Bösewicht am Ende an Bosheit. Er begeht allerdings
nicht derart viele Gräuel, dass dem unsensiblen Zuschauer bewusst wird,
welch eine krasse Wesensänderung bei ihm stattgefunden hat, aber dem
Aufmerksamen entgeht es nicht.
Ich verstehe seine Erfahrung aus Erfahrung. Das ist meine Geschichte.
Ein junger Mann mit vielen Hoffnungen wird durch eine heimtückische
Sprachstörung (Stottern) ausgebremst, kommt mit seinen Mitmenschen nicht
klar, weil er Autist ist (es aber nicht weiß), wird depressiv und
findet schließlich zu Gott, wird ein Theist. Ein akzeptables Niveau an
täglichem Leid kann weltimmanent verarbeitet werden, zu großes Leid oder
zu viel davon staut sich auf, bis im Unbewussten bewusst wird, dass
dieses Leid weltimmanent nicht mehr aufzuwiegen ist. Man fängt an, nach
einem welttranszendenten Garanten der Glückseligkeit zu suchen, nach
einer allmächtigen Person, die einem verspricht, die Bilanz wieder
auszugleichen. Aus gespeichertem Leid entsteht eine Anspruchshaltung.
Zum Glück wurde ich nicht zum Mafia-Bösewicht, aber ich lebe auch nicht
in einem Film. All die Jahre des Theismus verbrachte ich damit, mich
selbst überzeugen zu wollen, dass es diesen transzendenten Garanten der
Gerechtigkeit gibt, der die Leidleistung in Glückspunkten wieder
zurückzahlt. Es war nicht von Anfang an so, dass ich an das Paradies mit
den sprichwörtlichen 72 Jungfrauen dachte, im Gegenteil, ich war voller
Hoffnung, als 16-jähriger Christ in dieser Welt das Glück zu erleben,
dass das Erlittene ausgleichen sollte. Erst als das Leid sich verzinste
und schneller wuchs als die Staatsschulden von Italien, wurde mir klar,
dass kein Glück dieser Welt das bereits Erlittene wettmachen konnte. Das
war mein "I want to believe"-Moment. Doch "Ich glaube daran, weil ich
es mir wünsche" war angesichts intellektueller Selbstreflexion schon im
jungen Alter zum Scheitern verurteilt. Ich verzweifelte. Und ich
kündigte das christliche Opfer-Abo. Das war der richtige Weg.
Doch dann kam Sex. Erst mit 16 entwickelte ich echtes sexuelles
Interesse, davor war ich sexuell ein Kind. Zur verspäteten Pubertät
kamen heftige Verliebnisse, die die Romantik in den Vorder- und die
Sexualität in den Hintergrund rückten. Kurz vor dem Abschied vom
Christentum, als die Begeisterungsenergie der romantischen Liebe nach
mehreren erfolglosen Verliebnissen verbraucht war, sprach die Sexualität
ihr Wort. Ich hatte keine Ahnung, dass meine inferior function die extravtertierte Sinnlichkeit (Se)
ist, und ich dadurch das Leidkonto ausschließlich sinnlich abgenießen
kann. Ich lebte und litt weiter, anstatt den erlösenden Freitod zu
wählen. Diese Entscheidung bereute ich immer mehr, doch andererseits
wuchs auch das Leidkonto und damit die Ausgleichsansprüche. Ich tat ja
nichts Böses, im Gegenteil, Gutes, und zwar, weil das meinem Wesen
entsprach. Mein Fehler war aber, dass ich dafür belohnt werden wollte.
Und dieser Fehler ist ein eingebauter psychologischer Fehler, der eben
introvertierte Sinnlichkeit heißt.
Meine Vorstellung war nicht, mit echten Frauen echten Sex zu haben,
sondern in einem virtuellen Simulator selbst ausgedachte
Sexualsituationen auszukosten. Die Ansprüche an das Aussehen der
sexuellen Genussobjekte wuchsen Jahr für Jahr, bis sie so perfekt waren,
wie keine reale Frau jemals sein könnte. Doch wie konnte ich mir selbst
versichern, auch tatsächlich jemals ausgezahlt zu werden? Dafür nutzte
ich Religion und Moralphilosophie: die Moralphilosophie sollte das
Gewünschte als das logisch Notwendige erscheinen lassen, die Religion
mit der Güte Gottes dafür bürgen. Wenn es Gott gibt, wird mein Leidkonto
ausgeglichen, denn ich leide ohne Schuld. Und ich entzog mich jeder
Möglichkeit des Schuldigwerdens, um die Situation noch zu verschärfen.
Wenn ich mein Paradies nicht bekomme, vernichtet Gott sich selbst, denn
dann ist Gott nicht Gott, oder es gibt keinen Gott. Letzteres war immer
mit der Anspielung verbunden, dass (mir) dann alles erlaubt sein würde:
"die Welt pfänden", wenn ich meine Gerechtigkeit nicht bekomme, so meine
Ausdrucksweise im Sommer 2006.
Was war ich für ein kranker Bastard? Mal checken. Posttraumatische
Belastungsstörung? Check. Posttraumatische Verbitterungsstörung? Check.
Narzisstisches Trauma? Check. Schwere Depression über Jahre hinweg?
Check. Die Welt als Unwille und Alptraum, die Moral als Narzissmus, die
Religion als KZ. Wer quälte mich denn all die Zeit? Heute weiß ich ja,
dass ich der Welt und fast allen Menschen und Göttern angenehm egal bin,
sie haben nichts gegen mich, sie werden aber auch von meinem Leid nicht
fett. Aber die intovertierte Sinnlichkeit ist mein Dämon
(Umkehrfunktion der vierten kogntiviten Funktion, der extravertierten
Sinnlichkeit). Der Dämon ist der Kopf des Super-Ego, während die
Hauptfunktion das Ego anführt: Ni hero bedeutet Si demon.
Keine kognitive Funktion hängt so am Leben wie die introvertierte
Sinnlichkeit. Darum war mir der Suizid verboten. Nicht von Gott oder der
Gesellschaft oder der Moral, sondern aus dem tiefsten Abgrund meiner
Psyche.
Jeder, der nicht nur Geiles erlebt, wird von der introvertierten
Sinnlichkeit herausgefordert. Diese Funktion wehrt sich gegen schlechte
Erfahrungen, was psychologisch sinnvoll ist, denn sie soll man ja nicht
wiederholen. Doch bei zu viel Leid ohne Möglichkeit des Entkommens
sammelt die introvertierte Sinnlichkeit das Erlittene wie eine
Privatbank des Zorns, und wartet auf den Zahltag. Ist Si im Ego
verankert, neigen Si hero und Si parent per default zur theistischen
Religion, Si child und Si inferior verderben den Charakter und zerstören
das Gute im Menschen. Ist Si im Schatten, verfolgen die schlechten
Erfahrungen einen als Si nemesis, ziehen als Si critic runter, lassen
als Si trickster immer wieder dieselben Fehler wiederholen (mit Tendenz
zu Suchtverhalten), oder wollen sich als Si demon an der Welt rächen.
Nur künstliche Hoffnung hält davon ab, und zwar durch den Zwangsglauben.
Da es sich um den Kern der theistischen Pathologie handelt, kann die
Darstellung nicht kürzer ausfallen. Aber hier sind wir am Wendepunkt
angekommen, die restlichen drei Funktionen sind nicht mehr Teil des
Problems, sondern Teil der Lösung. Allen außer INTJs und INFJs ist als
Heilmittel gegen Theismus Psychotherapie zu empfehlen, die beiden
Charaktertypen mit der Arschkarte müssen da selber durch, weil der Dämon
introvertierte Sinnlichkeit sich gegen die Auflösung seiner Lebenslügen
so stark wehren wird, dass kein Therapeut dagegen ankommt. Den Theismus
zu besiegen ist so schwer wie den Krebs zu besiegen; den Theismus sehe
ich immer deutlicher als den Krebs des Geistes.
Kurz: Schlechte Erfahrungen werden gespeichert, die Psyche schreit nach
Gerechtigekeit, nach Ausgleich, wenigstens nach Linderung. Erlebt sie
aber weiter nichts als Schmerz, Schmerz, Schmerz, wird sie krank, und
infiziert den Geist. Die Geisteskrankheit, der Glaube an einen Gott als
Person, parasitiert auf dem natürlichen Bedürfnis nach Transzendenz.
Mystik, das Streben nach Vervollkommnung und Heiligkeit, der Weg des
Dharma: so reagiert ein gesunder Geist auf dieses Bedürfnis. Der kranke
Geist hält krampfhaft an der Wahnidee eines menschenähnlichen Schöpfers
des Universums fest, entmachtet sich selbst, verbietet sich jede
Anstrengung (an sich sinnvoll: in der Krankheit braucht man Schonung),
bis das Leidkonto ausgeglichen wird, lebt in einer Trotzhaltung
gegenüber der Welt, und beraubt sich der einzigen Möglichkeit, dem Elend
ein Ende zu setzen, wenn es unerträglich wird: des Suizids.